Dr. Othmar Karas
Erster Vizepräsident des Europäischen Parlaments
Geben wir der Idee Europa eine Chance, arbeiten wir gemeinsam an unseren Zielen: Stellen wir das Verbindende in den Mittelpunkt und machen wir alle Europäerinnen und Europäer zu Beteiligten.
2022 wurde ich zum Ersten Vizepräsidenten des Europäischen Parlaments gewählt. Es ist meine dritte Amtszeit im Präsidium des EU-Parlaments.
Den Parlamentarismus stärken.
In meiner Amtszeit möchte ich eine Charta des modernen Parlamentarismus erarbeiten, auch gemeinsam mit allen nationalen ParlamentspräsidentInnen. Diese Charta soll die tragende Rolle der BürgerInnenkammer Europas breit sichtbar machen, den Parlamentarismus gegen die Oberflächlichkeit vieler politischer Entwicklung verteidigen und Rückenwind für die nächste EU-Parlamentswahl 2024 schaffen. Ich möchte den Parlamentarismus, den Selbstwert der Abgeordneten und das freie Mandat stärken. In meine Zuständigkeit fällt deshalb auch die Beziehung zu den nationalen Parlamenten.
Unsere Zukunft gestalten.
Wir müssen an unserem gemeinsamen Europa weiterbauen und dabei als BürgerInnenkammer Europas treibende Kraft sein. Deshalb freut es mich besonders, dass ich für das Präsidium an der Umsetzung der Schlussfolgerungen der Konferenz zur Zukunft Europas arbeiten kann. Wir im Europäischen Parlament müssen der Garant dafür sein, dass die Ideen der Bürgerinnen und Bürger ernst genommen werden.
Kommunikation ist alles.
Ich bin für die Kommunikations- und Informationspolitik sowie die Pressearbeit des Europäischen Parlaments verantwortlich. Ich bin davon überzeugt, dass wir den Mehrwert der EU (be)greifbarer machen, die Abläufe und Entscheidungsmechanismen noch besser erklären und die Bürgerbeteiligung intensivieren müssen. Dabei helfen vor allem die Verbindungsbüros des EU-Parlaments in den Mitgliedsstaaten, für die ich ebenfalls zuständig sein darf. Außerdem verantworte ich den Europatag am 9. Mai, an dem wir jedes Jahr der Schuman-Erklärung gedenken, die einen Grundstein für unser gemeinsames Europa gelegt hat.
Das Parlament in der Welt.
Als Erster Vizepräsident übernehme ich die Vertretung der Präsidentin des Europäischen Parlaments, Roberta Metsola, für die Länder der Europäischen Freihandelsassoziation (EFTA), die Weltbank und den Internationalen Währungsfonds (IWF) sowie für multilaterale Gremien (Sicherheit) einschließlich der Nordatlantikvertrags-Organisation (NATO) und der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE). Mein Ziel ist es, die Europäische Union zum Sprecher des Kontinents in der Welt zu machen.
Faktenbasierte Politik.
In meinen Zuständigkeitsbereich fällt weiters die Bibliothek des Europäischen Parlaments und der seit 2014 bestehende wissenschaftliche Dienst (EPRS) als interner Forschungsdienst und hauseigene Denkfabrik. Er unterstützt die Mitglieder bei ihren Entscheidungen und ist damit die Basis für faktenbasierte Politik in unserem Haus.
Einander verstehen.
Ich bin der festen Überzeugung, dass wir einander besser kennenlernen müssen. Wir neigen dazu, Standpunkte anderer nur aus unserer Perspektive zu bewerten. Dabei hat jedes Land seine eigene Geschichte, unterschiedliche Religionen und Zugänge. Wenn wir die unterschiedlichen historischen Erfahrungen aller in Europa nicht ernst nehmen, verstehen wir uns nicht und können kaum eine gemeinsame Zukunft bauen.
Ich wurde mit der Umsetzung von Artikel 17 AEUV betraut. Mit Artikel 17 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) wurde eine rechtliche Verpflichtung für einen offenen, transparenten und regelmäßigen Dialog der EU mit Kirchen, religiösen Vereinigungen und weltanschaulichen Gemeinschaften geschaffen.
Wir müssen den Kampf gegen Geldwäsche, Steuerhinterziehung und Steuervermeidung intensivieren. Unerhörte 825 Milliarden an potenziellen Steuereinnahmen gehen jedes Jahr in Europa durch Steuerflucht, Steuerbetrug und Steuervermeidung verloren. Das sind knapp 2.000 Euro pro EU-BürgerIn, und das ist mehr Geld als wir für den Aufbauplan „Next Generation EU“ haben. Noch immer verschieben manche große Firmen ihre Gewinne nur aus Gründen der Steuervermeidung von einem Land ins andere. Diese Ungerechtigkeit müssen wir endlich abstellen. Die Umsetzung der Gesetze in allen Mitgliedstaaten, Mehrheitsentscheidungen statt Einstimmigkeit, eine gerechte Digitalbesteuerung und gemeinsame Steuerbemessungsregeln sind dringend notwendig.
Zentral ist die Stärkung der Wirtschafts- und Währungsunion, inklusive Vollendung der Banken- und Kapitalmarktunion. Auf satte 275 Milliarden Euro pro Jahr wird der Mehrwert an Wirtschaftsleistung einer Weiterentwicklung der Wirtschafts- und Währungsunion geschätzt. Nachdem die EU mit vereinten Kräften als Antwort auf die Corona-Krise das größte EU-Investitionspaket aller Zeiten auf die Beine gestellt und die Finanz-, Wirtschafts- und Staatsschuldenkrise gemeistert hat, müssen die Arbeiten weitergehen, um das Finanz- und Währungssystem sicherer und nachhaltiger zu machen. Das Finanzsystem muss in den Dienst der Realwirtschaft gestellt werden. Unsere gemeinsame Währung erfordert mehr gemeinsame Wirtschafts- und Währungspolitik. Wir müssen den Euro als zweitwichtigste Währung der Welt auch international weiter stärken und als Antwort auf digitale Herausforderungen weiterentwickeln. Der Euro braucht ein gemeinsames Budget und der Euro-Rettungsschirm muss zu einem richtigen Europäischen Währungsfonds ausgebaut werden.
Wir haben es in Europa selbst in der Hand, globale Entwicklungen mitzubestimmen und wettbewerbsfähig zu bleiben. Dafür müssen wir gemeinsam mehr tun:
enger zusammenarbeiten, effizienter werden und mehr investieren. Das betrifft insbesondere die Bereiche Industrie, Digitalisierung, Energie und Forschung. Die industrielle Transformation bietet die Möglichkeit, entsprechend dem Beispiel der Corona-Impfstoffproduktion, international zum „First-Mover“ in Schlüsselbranchen aufzusteigen und Europa als vorausschauenden Standardsetzer im globalen Wettbewerb zu positionieren. Nur wer am schnellsten und effektiv handelt, wird die Chancen des ökologischen Wandels am besten für sich nutzen können.
Mehr Geld für Spitzenforschung und Innovation. Forschung ist die Grundlage für Innovation und Wettbewerbsfähigkeit. Einzig eine ehrgeizige Forschungspolitik kann eine Hebelwirkung für Investitionen entfalten und dafür Sorge tragen, dass unsere Universitäten und Forschungseinrichtungen attraktiver Anziehungspunkt für die klügsten Köpfe werden. Um langfristig gegen andere Volkswirtschaften bestehen zu können, braucht es in den nächsten zehn Jahren zusätzliche Investitionen in Höhe von sagenhaften 660 Milliarden Euro pro Jahr. Um diese Gelder zu mobilisieren müssen wir geeignete Rahmenbedingungen schaffen.
Die EU muss zum Sprecher des Kontinents in der Welt werden. Gegenüber aufstrebenden Weltregionen wie China, Indien und Lateinamerika schrumpft Europas Anteil an der Bevölkerung und der Weltwirtschaft jeden Tag. Deshalb müssen wir unserer Kräfte bündeln. Dazu gehört auch, dass Europa innerhalb der Vereinten Nationen mit einer Stimme spricht. Eine gemeinsame Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik sowie Steuerpolitik sind die Voraussetzung dafür, ein ‚Global Player‘ zu sein.
Die EU ist die einzige Möglichkeit für unseren Kontinent, die Globalisierung mitzugestalten. Die Frage ist nicht, ob wir Globalisierung mögen oder nicht. Die Herausforderung besteht darin, wie wir sie mitgestalten. Wir haben nur dann eine Chance, Einfluss zu nehmen, wenn sich Europa gemeinsam für globale Standards und Handelsabkommen einsetzt. Dafür müssen wir als Europäer kämpfen – zum Schutz von Mensch und Umwelt. Nur so können wir unsere Wirtschaft, unsere Lebensmittel und Sozialstandards schützen.
Noch nie in der modernen Geschichte gab es weltweit so viele Migranten wie heute. Für den Umgang mit Migration braucht es ein umfassendes Maßnahmenpaket aus Bekämpfung von Hunger, Krieg, Armut, Gewalt, Verfolgung und Unsicherheit in den Herkunftsländern, neuen legalen Migrationswegen, eine klare Unterscheidung zwischen Schutzbedürftigen und Wirtschaftsmigranten, einheitliche Verfahren und Standards zur Aufnahme in Europa und eine solidarische Integrationspolitik.
Wir brauchen eine lückenlose Kontrolle der EU-Außengrenzen und ungehindert offene EU-Binnengrenzen. Der freie Personenverkehr innerhalb Europas ist eine der größten Errungenschaften der EU. Um diese Errungenschaft der freien Grenzen im Inneren erhalten zu können, brauchen wir eine starke europäische Grenz- und Küstenwache an den Außengrenzen. Der Außengrenzschutz muss Zuständigkeit der gesamten EU, nicht nur der Anrainerstaaten, werden. An den Außengrenzen muss zwischen Flüchtlingen und Migranten, regulär und irregulär, unterschieden werden können.
Der europäische Green Deal stellt als Europas Wachstumsstrategie die Weichen für eine moderne, ressourceneffiziente und wettbewerbsfähige Wirtschaft. Wir haben uns ambitionierte Ziele gesetzt. Jetzt geht es um eine wirksame und rasche Umsetzung durch konkrete Maßnahmen. Das ist die Chance, europäische Umwelttechnologien weltweit zu positionieren und im Klima- und Umweltschutz, Technologieführer zu werden. Mit dem 750 Milliarden Euro schweren Innovationspaket „Next Generation EU“ nehmen wir dafür so viel Geld wie noch nie zuvor in die Hand. 100 Prozent dieser Mittel müssen mit den Zielen des Pariser Klimaschutz-Übereinkommens in Einklang stehen, 37 Prozent in die Ziele des „Green Deal“ fließen und 30 Prozent durch grüne Anleihen beschafft werden.
Ein besonderes Augenmerk muss auf den sozioökonomischen Auswirkungen der grünen Wende liegen. Denn wir dürfen vor allem eines nicht aus den Augen verlieren: der Übergang zur Klimaneutralität ist für die Menschen und wird nur mit Beteiligung jedes einzelnen erfolgreich sein. Daher müssen wir den Weg dorthin global koordinieren und zielorientiert anlegen. Im Kampf gegen den Klimawandel darf niemand auf der Strecke bleiben.
Zur Demokratie gehört auch, dass die Entscheidungsprozesse einfacher und transparenter werden. Ich will, dass ausnahmslos jedes EU-Gesetz von den Mitgliedstaaten (als Ländervertretung) und dem Europäischen Parlament (als Bürgervertretung) gemeinsam beschlossen werden muss. Dazu muss der Rat langfristig in einen Europäischen Senat umgebaut werden. Das Europäische Parlament muss alle Entscheidungen der europäischen Ebene demokratisch legitimieren.
Die Vetorechte einzelner Mitgliedstaaten müssen fallen. Wenn Europa mit einer Stimme sprechen soll, können nicht allein die Zögerer und Zauderer das Tempo bestimmen. Unsere Demokratie basiert auf Mehrheitsentscheidungen – das soll auch in der EU gelten! Das Einstimmigkeitsprinzip führt zu Blockaden, Erpressungen und Handlungsunfähigkeit. Wer eine bessere und handlungsfähigere EU will, muss die Beschlussmechanismen ändern. Dies gilt für alle Themenbereiche.