Europa, Österreich

Karas fordert Neustart der Europapolitik: „Brauchen die FPÖ dafür nicht“

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Salzburger Nachrichten und Öberösterreichische Nachrichten
Der Erste Vizepräsident des EU-Parlaments hält einen „parteiübergreifenden Grundkonsens“ zur Rolle Österreichs in der EU für notwendig. Karas erklärt im Interview, was sich während seiner Zeit im EU-Parlament verbessert hat, wo die Union bisher gescheitert ist und wie sie demokratischer wird. In welcher Form Othmar Karas (ÖVP) daran nach dem 16. Juli 2024, wenn er nach 25 Jahren aus dem EU-Parlament ausscheidet, mitwirken könnte, lässt er offen. Er wisse ja nicht, „welche Türen aufgehen“. Fest steht nur, dass er bei der EU-Wahl im kommenden Juni nicht mehr antritt. Karas erklärt im Interview, was sich während seiner Zeit im EU-Parlament verbessert hat, wo die Union bisher gescheitert ist und wie sie demokratischer wird.

 

Sie haben nach Ihrer Erklärung von der Konkurrenz freundlichere Reaktionen erhalten als aus den eigenen Reihen. Hat Sie das gekränkt?

Othmar Karas: Nein. Für mich war das eine Bestätigung, dass es mir gelungen ist, parteiübergreifend Zustimmung zu erhalten. Das war und ist mir enorm wichtig, weil ich alles daran gesetzt habe, die Rolle Österreichs in der Europäischen Union und die Arbeit im EU-Parlament als eine parteiübergreifende zu sehen.

Ab wann haben sie sich von Ihrer Partei entfremdet?

Es gibt kein Einzelereignis. Ich habe meinen Kurs nicht geändert. Es ist wichtig, dass man Entscheidungen nicht aus der Stimmungslage des Tages trifft, sondern dass man Glaubwürdigkeit und Vertrauen erhält, weil man eine konsequente Linie verfolgt. Durch den aufkeimenden Nationalismus sind die politischen Ränder gestärkt worden, Parteien in allen Mitgliedsstaaten haben darauf reagiert, indem sie zu den Rändern schielen. Ich habe kritisiert, dass ich das als schweren Fehler erachte. Das Selbstverständnis der Rolle und der Mitverantwortung Österreichs innerhalb der EU und der Rolle der EU in der Welt hat sich seither verändert, auch in meiner Partei. Dadurch sind die Auseinandersetzungen und Meinungsunterschiede mit mir stärker geworden.

Ist die ÖVP noch eine Europapartei?

Sie ist in ihrem Selbstverständnis nicht mehr die Europapartei, die ich mitgestaltet habe. Wir benötigen in Österreich dringend einen europapolitischen Neustart.

Wie soll der aussehen?

Es braucht einen parteiübergreifenden Grundkonsens. Ein solcher hat zum erfolgreichen EU-Beitritt geführt. Die Rolle Österreichs in der EU muss außer Streit gestellt werden.

Denken Sie, dass die FPÖ unter Herbert Kickl dafür zu haben ist?

Ich glaube nicht. Aber die brauchen wir dafür auch nicht. Es kann einen Konsens zwischen der ÖVP, der SPÖ, den Grünen und den Neos geben. Darum muss man sich bemühen. Denn die Zukunft Österreichs hängt engstens mit jener der EU zusammen, aufgrund unserer Geschichte, geografischen Lage, Exportabhängigkeit, unseres Lebensmodells. Daher sind wir gut beraten, bei jedem Integrationsschritt von Beginn an dabei zu sein. Wir leben im größten Transformationsprozess seit 1945, sowohl wirtschaftlich als auch ökologisch, sozial und geopolitisch. Hinzu kommt auf unserem Kontinent derzeit die Frage von Krieg und Frieden. Diese Komplexität kann von der FPÖ, von den Extremen missbraucht werden. Weil sie damit Angst machen können. Nur: Angst ist ein schlechter Ratgeber bei der Problemlösung.

Kann man für einen Grundkonsens eine Partei links liegen lassen, die – wenn die Umfragen richtig liegen – von jedem Dritten gewählt werden könnte?

Deren Themen darf man nicht links liegen lassen. Aber wenn jemand mit der AfD im Bett liegt, die das Europaparlament und die europäische Demokratie abschaffen will, die zurück will in das Europa der Nationen, die im Umgang miteinander nach dem Freund-Feind-Schema operiert, dann ist das ein anderer Zugang zum Menschenbild und zur Verantwortung der EU. Ich schließe niemanden aus, aber man muss einen Weg vorgeben. Man muss sich mit deren Themen auseinandersetzen, darf sich aber nicht ihrer Methoden bedienen und von ihnen blockieren lassen. Sie haben keine Mehrheit. Die liegt in der Mitte, die dürfen wir nicht vernachlässigen.

Sie werden 2024 nach 25 Jahren aus dem EU-Parlament ausscheiden. Was hat sich in dieser Zeit zum Besseren gewandelt?

Als ich gekommen bin, ist Österreich am Rande gelegen. Erst unsere Mitgliedschaft und die Erweiterung haben uns ins Zentrum gebracht. Österreich ist neben Deutschland einer der Hauptprofiteure. Das meiste Geld der Union wird in den Regionen und Gemeinden ausgegeben. Wir haben Schengen, den Euro, den Green Deal. Der ist nicht nur eine Antwort auf den Klimawandel, sondern auch ein Wirtschafts- und Investitionsprogramm. Wir haben zusammen eine Antwort auf den Angriffskrieg der Russen in der Ukraine zustande gebracht, mit elf Sanktionspaketen gegen Russland und der vollen Unterstützung der Ukraine. Und wir haben einen klaren gemeinsamen Zugang zu den Terroranschlägen der Hamas gegen Israel.

Welchen gemeinsamen Zugang zur Lage in Israel meinen Sie? Ratspräsident Michel, Kommissionspräsidentin von der Leyen und der Außenbeauftragte Borrell haben alles andere als ein einheitliches Bild abgegeben.

Die Resolution des Parlaments hat parteiübergreifend eine breite Zustimmung bekommen. Die Haltung ist eine sehr klare: Dass wir uns zu 100 Prozent hinter das Existenzrecht Israels stellen und gegen diesen Terroranschlag wenden. Dass wir das Recht auf Verteidigung zu 100 Prozent bejahen unter Berücksichtigung des humanitären Völkerrechts.

Das sind Selbstverständlichkeiten.

Die man leider in zunehmendem Ausmaß betonen muss, weil manche die humanitäre Hilfe für die Zivilbevölkerung im Gazastreifen gegen die Unterstützung Israels ausspielen. Man muss aus diesem Schwarz-Weiß-Denken heraus.

Woran ist die EU gescheitert, seit Sie dabei sind?

Wir haben in einem Punkt bis zur Stunde versagt, wo wir nicht aus der Krise weiter gekommen sind: Das ist die Migrations- und Asylpolitik. Da hoffe ich, dass es jetzt bis Weihnachten zu einer Einigung zwischen dem Rat der Mitgliedsstaaten und dem Parlament kommt. Und ich hoffe, dass in diesem Prozess auch das Schengen-Veto (Österreichs gegen den Beitritt Rumäniens und Bulgariens, Anm.) aufgehoben wird. Ich halte es wirtschaftlich und politisch für falsch, weil das Auswirkungen auf den Binnenmarkt, die Rolle der österreichischen Wirtschaft in dieser Region hat. Wenn wir mit dem Asyl- und Migrationspakt die Außengrenze zu einer gemeinsamen Angelegenheit machen, muss die Schengen-Grenze damit ident sein.

Kritiker attestieren der EU ein Demokratiedefizit. Wie lässt sich das beheben?

Die Einstimmigkeit im Rat muss beseitigt werden. Das ist ein nicht-demokratisches Instrument. Es darf künftig keine Entscheidungen ohne Zustimmung des Parlaments, der Bürgerkammer geben. Ich hätte gerne ein europäisches Wahlrecht mit Direktmandaten für nationale und Zweitstimmen für europäische Listen. Und ich bin ein Anhänger davon, dass wir europäische Volksabstimmungen einführen.

Das Spitzenkandidatensystem sollte für mehr Legitimität bei der Bestellung des Kommissionschefs sorgen. Das wurde nach der EU-Wahl 2019 von den Mitgliedsstaaten, allen voran Frankreich, einfach ignoriert.

Ich bin ein großer Verfechter davon. Es war immer gedacht als eine Vorstufe zu europäischen Listen. Das ist für 2024 gefallen. Ich rechne damit, dass die großen Parteienfamilien Spitzenkandidaten für den Kommissionspräsidenten nominieren werden, damit der Bürger weiß, wer die Personen sind, die zur Verfügung stehen. Ich rechne damit, dass die Europäische Volkspartei eine Kandidatur von Ursula von der Leyen unterstützen wird.

Sie haben in Ihrer Erklärung gesagt, ein Kämpfer bleiben zu wollen. Das lässt sich so auslegen, dass Ihre Politkarriere noch nicht dem Ende zugeht.

Ich bin und bleibe ein politischer Mensch, der gerne Verantwortung trägt. In welcher Form und wo kann ich Ihnen heute beim besten Willen nicht sagen, weil ich nicht weiß, welche Türen aufgehen. Aber dass meine Bereitschaft aufrecht ist, meine Erfahrung, meine Leidenschaft und meine Überzeugungen weiterhin in den Dienst Österreichs und einer starken EU zu stellen, steht außer Streit.

Autor: Thomas Sendlhofer