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Green Deal: „Diese Ziele erreicht man nicht im Schlafwagen“

Othmar Karas Caio Kaufmann

Othmar Karas, Erster Vizepräsident des EU-Parlaments, rechnet im „Presse“-Interview mit den Bremsern ab. Auch mit jenen seiner eigenen Fraktion. Viele Politiker seien „argumentationsfaul und agieren auch unehrlich“, sagt er.

 

Ihre Parteikollegen zeichnen ein Bild, das kein gutes Haar am Versuch dieser EU-Kommission lässt, der Ökologie einen höheren Stellenwert zu geben und die bestehenden Verpflichtungen zu Artenvielfalt und Klimaschutz ernst zu nehmen. Wie sehen Sie diese Initiativen ihrer Parteifreunde?

Es ist wichtig, über das Bild zu reden. Es hängt sehr eng zusammen mit dem Selbstverständnis von politischer Verantwortung. Ich sehe das Kernproblem sehr tiefgehend. Und ich sehe es primär in der Frage des erodierenden Verständnisses von politischer Verantwortung, die sich leider in den vergangenen Jahren stark gewandelt hat – bei einer Mehrzahl von Politikern quer durch die Parteien. Das bedauere ich sehr.

Denn worum geht’s? Wir haben uns gemeinsam ein Ziel gesetzt. Und das Ziel heißt Klimaneutralität bis 2050 spätestens und so schnell wie möglich. Deshalb hat ja auch Österreich sich zum Ziel gesetzt, die Klimaneutralität bis 2040 zu erreichen. Wir haben den Applaus für diese Zielsetzung gerne angenommen. Wir haben uns dieses Ziel gesetzt, damit Europa der erste Kontinent in der Welt ist, um diese Klimaneutralität zu erreichen. Wenn man sich Ziele setzt, dann muss man Maßnahmen heute ergreifen, um sie morgen zu erreichen. Die Umsetzung kommt nicht von selbst.

Was bedeutet dies konkret?

Die Maßnahmen leiten eine Transformation ein – eine wirtschaftliche, eine ökologische, eine steuerliche, eine Förderungs-Transformation. Diese Veränderung muss eingeleitet werden und sie muss sozial begleitet werden. Diese Ziele erreicht man nicht im Schlafwagen. Der Weg dorthin ist im Regelfall sehr holprig. Aber es führt aus meiner Sicht kein Weg daran vorbei. Die Klimaneutralität ist alternativlos.

Reden wir über die Klimakrise allein oder meinen Sie damit generell einen anderen Umgang mit dem, was wir Umwelt nennen?

Über alles. Wir dürfen keine Zeit verlieren. Freilich, es ist ein politischer Prozess. Ein offener, transparenter Dialog über die notwendigen Maßnahmen ist nötig, über die sozialen und ökonomischen Auswirkungen und über die dabei notwendigen Begleitmaßnahmen. Es muss Stufenpläne geben. Das alles geht ja nicht von heute auf morgen, es ist ein Prozess, der bis 2050 zum Ziel führen muss. Die Stufen machen möglich, das alles auch sozial abgefedert und begleitet werden kann.

Trotzdem gibt es Querschüsse, vor allem von ihrer Partei. Weshalb?

Weil viele Politiker argumentationsfaul sind und auch unehrlich agieren. Weil sie bequem sind und vor jeder Kritik zu sehr in die Knie gehen. Sie spielen die Umsetzung gegen das Ziel aus. Das halte ich für unverantwortlich.

Populär oder populistisch?

Das hängt hier zusammen. Ich bin ja der Auffassung: Wir müssen es populär machen, dass die Ziele, die wir uns gesetzt haben, eine wirtschaftliche, soziale und ökologische Chance sind. Weil ich felsenfest davon überzeugt bin, dass die Erreichung der Ziele die einzige Möglichkeit ist, dass Europa bei den grünen Technologien Weltmarktführer wird. Das ist auch eine Standortfrage, eine wirtschaftspolitische Frage. Die Erreichung der Ziele ist ein Teil der Lösung und nicht die Ursache der Probleme. Wir dürfen nicht noch einmal – wie bei der Digitalisierung und der Telekommunikation – die Technologieführerschaft an die Amerikaner oder Chinesen verlieren.

Und wenn dies doch geschieht?

Wenn es uns nicht gelingt, diesen Wettbewerbsvorteil erkennbar zu machen, und in der Bildungs-, Forschungs- und Steuerpolitik diesen Zusammenhang her- und als Chance darzustellen, dann erreichen wir unsere Ziele nicht. Das ist eine Frage des politischen Selbstverständnisses…

…um das es nicht gut bestellt ist, wie Sie eingangs erwähnt haben….

…. die aktuelle Politikergeneration, ist immer weniger kompromissfähig. In Österreich ist Kompromiss teilweise überhaupt schon ein Schimpfwort. Kompromisse werden sehr rasch als Packelei, Korruption oder Hinterzimmer-Deal abgetan und verunglimpft. Aber Kompromisse sind im Kern das Wesen der Demokratie und stehen dafür, auf einander zuzugehen und gemeinsam Lösungen zu erarbeiten. Demokratie heißt nicht Verbote, heißt nicht Blockade, sondern heißt immer die Suche nach mehrheitsfähigen Lösungen. In der derzeitigen politischen Entwicklung sind Parteitaktik und machtpolitische Spielchen stärkere Elemente als die Suche nach Kompromisse und Lösungen. Leider in zunehmenden Maß.

Warum ist das so?

Es wird immer mehr in die Schuldzuweisung geflüchtet. Die Polarisierung, die Parteipolitisierung und die Nationalisierung schwächt jede Gemeinschaft, und gibt leider gleichzeitig demjenigen, der sie benützt, eine überproportionale Öffentlichkeit. Das ist meine große Sorge in der Politik. Hier muss der demokratische Prozess gestärkt werden.

Diesbezüglich hat die EU allerdings in der breiten Öffentlichkeit kein gutes Leumundszeugnis.

Was man in den Mitgliedsstaaten oft nicht sieht: In Österreich werden etwa 90% der Gesetze beschlossen, wie sie von der Regierung verfasst worden sind – völlig unverändert! Auf europäischer Ebene werden über 90% der Vorschläge der Kommission verändert. Das Europäische Parlament versucht in all diesen Fragen natürlich bei jedem Vorschlag der Kommission eine Auswirkungsstudie, einen Stufenplan, Zwischenziele und Evaluierungen sicherzustellen, damit die Ziele sozial verträglich erreicht werden. Es geht darum, in einem parlamentarischen Prozess Ziele umsetzen, nicht sie zu blockieren. Wenn ich dagegen bin, dann hab ich heute eine Ruhe. Wenn ich nicht dagegen bin, dann ist es schon viel komplizierter. Man sollte zu dem stehen, was man will und man sollte dazu stehen, was man mitentschieden hat. Sagen, was man tut, und tun, was man sagt.

Sind sie optimistischer geworden?

Nein. Ich bin aber auch nicht pessimistisch. Für mich gibt’s keine Alternative zur Klimaneutralität und allem was dazugehört. Ich sehe die Chancen, ich kenne die Risiken. Beides ist Aufgabe der Politik: das eine zu minimieren und das andere zu stärken. Es geht nicht um das Ob, sondern es geht ausschließlich um das Wie. Und ich bin enttäuscht und ernüchtert, dass viele Politiker, die sich für die Ziele haben feiern lassen, bei der Umsetzung und bei der Kommunikation ausfallen und kurzfristigen parteistrategischen Überlegungen folgen, Polarisierung über Verantwortung stellen. Das hat mich ernüchtert. Dadurch wird die Arbeit schwieriger. Aber ich sehe noch nicht, dass die Umsetzung der Maßnahmen nicht erreicht wird.

Wie beurteilen Sie die Europapolitik zwischen Boden- und Neusiedlersee?

Es kommt auch in Österreich zu vielen Politikern die Schuldzuweisung an die EU zu leicht von den Lippen. Das macht mir Sorgen.

Sie sind Teil einer Fraktion, die von beschlossenen Maßnahmen und Zeitpfaden abrückt. Wie gehen Sie damit um?

Ich tue, was ich für notwendig halte, indem ich mich in den Diskussionen einbringe, dafür werbe, was ich für richtig halte und gegen Doppelbödigkeit auftrete. Auch das ist mein Verständnis von politischer Verantwortung, von freiem Mandat, vom offenen, demokratischen Diskurs in einer sehr sensiblen Zeit, wo eigentlich jede Entscheidung eine Richtungs-Entscheidung ist. Deshalb appelliere ich an mehr Ernsthaftigkeit gegenüber den Sorgen, Wünschen und Herausforderungen unserer Zeit.

Wann ist denn das Maß voll?

Diese Frage stellt sich nicht, solange mein Gewissen die Letztinstanz ist und ich im demokratischen Diskus etwas bewirken kann, indem ich ehrlich für das, was ich für richtig und wichtig halte, werben kann.

Gilt dies auch für die EVP?

Es gibt keinen Klubzwang, einen offenen Willensbildungsprozess und an dem nehme ich teil.

Gilt dies auch 2024 und darüber hinaus?

Diese Entscheidung habe ich noch nicht getroffen. Es wäre auch zu früh.

Für die EU scheint der Spagat zwischen Anspruch und Wirklichkeit immer größer zu werden. Wie lange hält die EU das aus?

Die EU muss das immer aushalten, weil das politische Projekt EU nie fertig ist. Es ist ja eigentlich eine Antwort auf Fehlentwicklungen. Das Wichtigste ist jetzt, dass die Einstimmigkeit im Rat beendet wird, weil die Einstimmigkeit nicht mehr – wie in den Gründungsjahren der Gemeinschaft – eine Einladung zur verstärkten Zusammenarbeit ist, sondern immer mehr zum Blockade- und Erpressungsinstrument wird. Diese Einstimmigkeit muss die EU überwinden. Weil immer mehr Politiker das tagespolitische Kalkül über das Gemeinsame stellen und wir eine Politiker-Generation haben, die immer weniger kompromissfähig ist.

Was muss geschehen, dass sich das ändert?

Dieses Verhalten darf nicht belohnt werden.

Wie soll dies erreicht werden?

Durch demokratische Prozesse und durch eine kritische Öffentlichkeit in Medien.