OÖN: „Die Mitte hat sich von den Extremen treiben lassen“
OÖNachrichten: 25 Jahre – ein Vierteljahrhundert – Europaparlament – wie sieht Ihre persönliche Bilanz aus?
Othmar Karas: Positiv. Im EU-Parlament besteht die Möglichkeit, Mehrheiten für jedes Anliegen zu finden. Der demokratische Prozess ist dabei enorm. Das ist auch der wesentliche Unterschied zu nationalen Parlamenten, wo wir gewohnt sind, dass Regierungen eine Mehrheit stellen, und damit ein gewisser Automatismus bei Abstimmungen vorliegt. Im EU-Parlament hingegen findet ein dynamischer Prozess hin zu einer Lösung statt, der immer von Kompromiss geprägt ist.
Was hat die EU in den vergangenen 25 Jahren am meisten verändert?
Mit Sicherheit die Ost-Erweiterung im Jahr 2004, die auf Österreich die wahrscheinlich größten Folgen hatte. Wir sind damit vom Rande Europas ins Zentrum gerückt. Das hat alles verändert, vor allem wirtschaftlich. In meine Zeit als EU-Parlamentarier fällt auch die Unterschrift der Charta der Grundrechte der EU. Das hat den politischen Diskussionsprozess völlig verändert, weil seitdem jeder Europäer seine Grund- und Freiheitsrechte einklagen kann. Dazu kommt der Vertrag von Lissabon 2007, der die Rolle des Europäischen Parlaments massiv gestärkt hat.
In Ihre Zeit in Brüssel fallen auch richtungsweisende Momente, etwa der Brexit 2016. Wie hat der Austritt des Vereinigten Königreichs die EU verändert?
Der Brexit hat nicht nur die EU verändert, sondern vor allem das Vereinigte Königreich. Die Briten haben bis heute mit den Folgen zu kämpfen, da keines der Versprechen der Austrittsbefürworter erfüllt wurde.
Wie realistisch ist eine Rückkehr Großbritanniens in die EU?
Die Begehrlichkeiten wieder enger zusammenzuarbeiten nehmen seitens der Briten zu. Aufgrund der aktuellen politischen Situation in Großbritannien sehe ich auf absehbare Zeit keine Möglichkeit, wieder in die EU zurückzukehren – obwohl ich es mir wünschen würde.
In den vergangenen zehn Jahren hat ganz Europa einen Rechtsruck erlebt. Worin sehen Sie die Gründe?
Die Problemstellungen, mit denen wir gesellschaftlich konfrontiert sind, sind komplexer geworden. Und komplexe Themen habe keine einfachen Antworten. Dazu sind wir mit einer einzigartigen Gleichzeitigkeit konfrontiert: Migration, Kriege, Klimakrise, Pandemie, Inflation – wir durchleben die größten Transformationsprozesse seit 1945. Darauf reagieren Menschen mit Sorge und Angst. Und diese beiden Emotionen bereiten den Nährboden für jene, die einfache Lösungen versprechen.
Müssen sich Parteien der Mitte nicht fragen, wie viel Anteil sie daran selbst tragen?
Leider haben sich die Parteien der Mitte zu sehr von den Extremen treiben lassen. Und das, obwohl die Extremen nicht in der Mehrheit sind, sie sind lediglich die lautesten. Stellt sich die Mitte nicht dagegen, werden sie zur gefühlten Mehrheit. Auch deshalb ist die Europawahl heuer eine Richtungsentscheidung zwischen Demokratie und Autokratie, zwischen Zusammenhalt und Spaltung. Die Mitte muss wieder Lösungen anbieten und die Mehrheit einen.
Glauben Sie Europa war angesichts des Angriffskriegs in der Ukraine lange zu blauäugig, wenn es um die eigene Sicherheit ging?
Friede, Freiheit, Demokratie und Wohlstand schienen über Jahrzehnte selbstverständlich. Wir haben verlernt, diese Dinge als etwas zu sehen, was jeden Tag aufs neue errungen werden muss. Wir müssen die wehrhafte Demokratie neu definieren und dabei das Schutzversprechen an alle Europäer erneuern. Dazu gehört eine gemeinsame Sicherheitspolitik. Zusammenarbeit erhöht die Handlungsfähigkeit und senkt Kosten. Es gibt bereits den Strategischen Kompass, welcher der Fahrplan hin zu einer gemeinsamen EU-Verteidigungspolitik ist sowie eine Vielzahl an Projekten, an denen auch Österreich beteiligt ist.
Zum heimischen Wahlkampf: Die vergangenen Wochen wurde alles von den Vorwürfen gegen die grüne Spitzenkandidatin Lena Schilling überschattet.
Der Europawahlkampf leidet in Österreich immer darunter, dass er zum stellvertretenden Nationalratswahlkampf umgedeutet wird. Dass heuer auch noch die Vorwürfe gegen Frau Schilling alles zu dominieren scheinen, ist bedauerlich. Es schadet der Politik und der EU, wenn in einem Wahlkampf über alles diskutiert wird, nur nicht über europäische Politik. Ich bin Frau Schilling bisher zwei Mal begegnet und habe sie als engagierte junge Frau erlebt, die ihre Spitzenkandidatur ernst nimmt. Was mich in der Reaktion auf die Vorwürfe jedoch stört ist, dass so getan wird, als sei der Charakter reine Privatsache. In der Politik lassen sich Charakter und Amt aber nicht trennen. Die Arbeit im Parlament ist geprägt von Vertrauen und Kompromissfähigkeit, insofern ist die Persönlichkeit sehr wohl mitausschlaggebend, ob jemand für das Amt geeignet ist.
Ihre politische Zukunft ist Gegenstand vieler Diskussion. Wissen Sie bereits, was Sie nach dem EU-Wahlkampf machen werden?
Ich kann nichts neues dazu sagen. Ich werde aber nur Projekte in Angriff nehmen, wo ich gestalten kann und die Sinn machen. Wichtig ist mir, dass ich meinen Prinzipien treu bleibe.