Europa, Österreich

„Kleine Zeitung“: Karas im Interview: „Wer glaubt, ohne Sanktionen ist alles wie früher, irrt“

2022-09-05_KLEINEklein
Othmar Karas, Erster Vizepräsident des EU-Parlaments, tritt für eine Entkoppelung des Gaspreises vom Energiemarkt ein und warnt vor falschen Hoffnungen: „Wer glaubt, ohne Sanktionen ist alles so wie früher, der irrt.“

 

Zum Interview auf kleinezeitung.at

 

Vor zwei Tagen hat uns die Nachricht vom Tod Michael Gorbatschows erreicht. Welche Bedeutung hatte er für die EU?

Man könnte sagen: Ein Land, zwei Gesichter. Wir haben jetzt einen russischen Präsidenten, der das Rad der Geschichte zurückdrehen will, der mit militärischen Waffen gegen den Nachbarn und mit der „Waffe Energie“ gegen Europa vorgeht. Mit Gorbatschow ist ein Präsident gestorben, ohne den die Zeitenwende 1989 nicht friedlich verlaufen wäre. Ohne ihn gäbe es keine Wiedervereinigung Deutschlands, keine Neuordnung des sowjetischen Imperiums, kein Ende des Warschauer Pakts und keine Erweiterung der Europäischen Union. (Trotz aller technischen Entwicklung,) Trotz aller Veränderungen: Es liegt immer am Menschen.

 

Europa ist im Dauerkrisenmodus, jetzt stöhnen alle unter den hohen Preisen. Nächste Woche gibt es einen Sonderrat der Energieminister – kommen Maßnahmen oft zu spät?

Wir erleben gerade soviele komplexe Krisen, die alle gleichzeitig stattfinden, wie noch nie zuvor. Wir haben einen Krieg, Teuerung, Pandemie, Klimawandel und Flüchtlings- und Migrationsströme. Die Pandemie hat zu den Lieferkettenproblemen geführt und ist einer der Auslöser der Inflation. Der Krieg hat alle diese globalen Krisen noch verstärkt. Jetzt muss die Politik Ehrlichkeit zeigen. Manches wurde falsch eingeschätzt, manches zu spät erkannt, manches aus Feigheit nicht angegangen. Wir reden von einem europäischen Energiemarkt, aber der ist total fragmentiert. Wir können derzeit kein Flüssiggas von Porto nach Mitteleuropa bringen, weil die Pyrenäenpipeline stillgelegt ist und die Franzosen bei neuen Genehmigungen zögern. Die Energiepreisregelung hat bis zum Krieg funktioniert, vielleicht tut sie das auch danach. Doch jetzt ruiniert der Krieg den Markt, er setzt die Mechanismen außer Kraft.

 

Aber was kann die Kommission tun und warum dauert das so lange?

Wir haben in allen Mitgliedstaaten einen unterschiedlichen Energiemix, unterschiedliche Abhängigkeiten vom Gas. Es ist völlig richtig, dass die Kommission nun den Vorschlag eines Aussetzens der Merit-Order vorlegen wird und versucht, den Gaspreis vom Rest zu entkoppeln, dafür gibt es aber unterschiedliche Modelle. Das hat eine Zeitlang gedauert, da soll man nicht mit dem Finger auf jemanden zeigen(, die haben den Sommer durchgearbeitet.) Aber diese Einzelmaßnahme löst nicht das Problem. Wer profitiert denn? Putin, die Energiewirtschaft und die Finanzminister. Und es gibt die Opfer, das sind die Konsumenten und die Unternehmen. Wir müssen da aufrichtig sein: der Bürger erwartet sich, dass es einen Schalter gibt, der von Vergangenheit auf Zukunft umstellt und auf einen Schlag sind alle Probleme gelöst. Das ist in dieser Komplexität nicht gegeben. Man muss an vielen Schrauben drehen(, da hat die Kommission schon davor daran gearbeitet.) Ein gemeinsamer Gas-Einkauf, um so die Preise zu drücken, bleibt eine zwingende Notwendigkeit.

 

Aber gerade weil die Lage so unterschiedlich ist: werden nicht zunehmend Länder ausscheren?

Bis zur Stunde hat jede Krise die EU stärker gemacht, weil die BürgerInnen sehen, dass keiner alleine die Lösung hat. Wir schaffen es nur gemeinsam. Das ist der Grundgedanke von Europa. Miteinander reden, statt aufeinander schießen. Miteinander handeln statt sich gegenseitig blockieren. Wir haben Fehlentwicklungen, weil die Nationalismen zunehmen. Das ist genau das, was Putin will. Die Spaltung ist die größte Gefahr für die EU. Deshalb sage ich auch seit Jahren, die Einstimmigkeit ist ein Instrument der Spaltung und Erpressbarkeit. Ist sie weg, führt das zur Notwendigkeit des Kompromisses und zur Stärkung. Was muss denn noch alles passieren? Wir müssen die Mehrheit in der Mitte mobilisieren und uns nicht laufend von den Extremen und den Nationalisten links und rechts die Agenda bestimmen lassen. Dazu gehört auch bessere Kommunikation. Unwissenheit wird bei den Nationalisten als strategisches Instrument genutzt, die Bevölkerung wird aufgehetzt.

 

Gerade bei den Sanktionen sieht man aber, dass der innenpolitische Druck wächst. Sie haben kürzlich mit einem starken Satz auf einige Wortmeldungen aus Österreich reagiert. Aber stoßen wir da nicht langsam an gläserne Decken?

Ich bleibe dabei: Wir müssen vor der Geschichte bestehen und nicht vor den nächsten Wahlen. Und:

Ja, wir stoßen dabei an Grenzen. Wir leben in einer enormen Umbruchsituation. (Politischer Diskurs ist eine Voraussetzung,) Die Angst der Menschen darf nicht zum Spielball werden. Es ist eine bewusste Fehlinterpretation, wenn jemand sagt, die aktuelle Situation ist eine Folge der Sanktionen. Es gibt Leute, die sagen, wenn wir die Sanktionen nicht mehr haben, ist alles so wie früher. Das ist falsch. Die Sanktionen sind nicht die Ursache aller Probleme, es sind die globale Lage und Putins barbarischer Angriffskrieg. Sanktionen sind unsere gemeinsame friedliche Antwort, damit wir nicht gespalten werden. Vor dieser Debatte dürfen wir uns nicht fürchten.

 

Sehr oft wird gefragt, warum denn nicht verhandelt werde.

Da gibt es eine einfache Antwort: Sanktionen sind ein Bestrafungsakt. Für die EU ist nicht die Waffe die Antwort, sondern der Rechtsstaat. Sie sind ein Versuch, den Krieg schneller zu beenden, sie stehen nicht im Widerspruch zu Gesprächen. Dafür braucht es aber immer zwei und die Gesprächsbereitschaft von Putin ist nicht gegeben. Es gibt zwei Notwendigkeiten: die Ukraine in ihrem Freiheitskampf zu unterstützen und den Aggressor zu bestrafen, damit seine Politik nicht weitergeht. Die Ursachen der Probleme liegen ja bei Putin und nicht bei uns. Hier wird jedes Recht gebrochen. Den Preis, den wir aktuell zahlen, der wird in Geld gemessen. Der Preis, den die Ukraine zahlt, sind Menschenleben.

 

Die Populisten nutzen die Lage für sich. In Italien muss man einen Rechtsruck bei den Wahlen befürchten, aber die EVP unterstützt Silvio Berlusconi. Wie ist das zu verstehen?

Immer wieder holen uns die Fratzen der Vergangenheit ein, die wir seit 1945 überwunden geglaubt haben. Unsere Antwort ist die EU. Ich sehe das in Italien – die Debatte um die Zusammenarbeit von Parteien unterschiedlichster Herkunft führt dazu, dass man die Zusammenarbeit in Europa und die Unterstützung der Sanktionen zur Grundbedingung machen kann. Ich halte es für einen schweren Fehler, dass mit der Unterstützung von Berlusconi die Draghi-Regierung gescheitert ist. Draghi war ein Geschenk für Italien. Mir bereitet die Entwicklung große Sorge, es ist eine der größten Volkswirtschaften, es fließt sehr viel europäisches Geld in das Land, das gebotene strukturelle Reformen noch nicht durchgeführt hat. Leider wird in zu vielen Mitgliedstaaten eine Doppelstrategie gefahren: Auf europäischer Ebene für Europa, zu Hause eine Stimmung gegen die EU. Extrembeispiel ist Viktor Orban. Wir müssen dagegen auftreten, auch mit guter Öffentlichkeitsarbeit. Vertrauen und Ehrlichkeit sind die Schlüsselelemente. Es gibt eine Sehnsucht der Menschen nach Klarheit.

 

Müssen wir uns vor dem Winter fürchten?

Es ist eine Frage der Versorgungssicherheit. Ich glaube nicht, wenn wir alle auf europäischer Ebene zusammenhelfen: Wenn wir unsere Einsparungspotenzial und die zunehmend gefüllten Gasspeicher nutzen. Und wenn wir möglichst breit neue Energiequellen und Alternativen erschließen.