Europa, Österreich

Interview in den Vorarlberger Nachrichten über Asylkrise, Krieg und politische Verantwortung

EP Plenary session - Question Time to Commission - Protecting critical infrastructure in the EU against attacks.and countering hybrid attacks

Aus Vorarlberg kommen Rufe nach einem rascheren Vorgehen der EU in der Asylpolitik.  Ist sie hier gescheitert?

Karas: Die Phase, in der wir derzeit in der europäischen Politik sind, ist die herausforderndste und schwierigste seit 1945 – manchmal ist sie schwieriger. Die Migrationsdebatte, die wir jetzt in Österreich und Europa haben, hat aber wenig bis gar nichts mit dem Krieg zu tun …

 

Der Großteil der Menschen in Grundversorgung kommt aus der Ukraine, weswegen andere nicht mehr angemessen versorgt werden können.

Wir müssen es dennoch trennen. Jene aus der Ukraine sind nicht die, die im Moment an der burgenländischen Grenze aufgegriffen werden. Die, die jetzt das Thema bestimmen, kommen mit Schleppern zum Beispiel aus Indien, dem Iran oder Afrika. Wenn Sie die Europäische Union als politisches Instrument der Zusammenarbeit der Mitgliedsstaaten verstehen, dann ist diese Zusammenarbeit – nicht nur, aber auch in der Asyl- und Migrationspolitik – bisher gescheitert.

 

Warum?

Weil die Zusammenarbeit der Mitgliedsstaaten keinen gemeinsamen Außengrenzschutz, keine gemeinsame innerstaatliche Asyl- und Migrationspolitik, keinen gemeinsamen Solidaritätsmechanismus und keine Einhaltung von internationalem Recht gewährleisten kann. Das liegt am mangelnden politischen Willen zur Zusammenarbeit.

 

Solange sich die Mitgliedsstaaten einig werden müssen, wird das schwierig.

Es wird viel Schindluder betrieben, manche spielen mit dem Einstimmigkeitsprinzip. Fordern etwas von der EU, stimmen dann aber nicht mit. Deshalb: Schluss mit ständigen Schuldzuweisungen und Forderungen an die Union. Alle müssen an einen Tisch.

 

Kann man sich mit rechten Kräften wie der italienischen Postfaschistin Giorgia Meloni oder Ungarns Ministerpräsident Viktor Orbán überhaupt an einen Tisch setzen?

Es gibt keine Alternative dazu. Mit dem Suchen nach Schuldigen und Nationalismus lösen wir aber kein einziges Problem. Die Sorgen und Ängste der BürgerInnen werden gegen nachhaltige Lösungen ausgespielt. Wenn wir die Probleme unserer Zeit nicht europäisch und gemeinsam lösen, wird der Kontinent Europa in der Welt geschwächt.

 

Wie kann man einen Viktor Orbán davon überzeugen?

Das ist die traurige Entwicklung: Ich habe den Eindruck, dass manche aus der Geschichte nichts gelernt haben, sondern mit ungelösten Problemen aus der Geschichte spielen. Das halte ich für verantwortungslos. Jedes Abweichen von Gemeinschaftsrecht in einem Land, bringt die anderen Länder in Geiselhaft.

 

Österreichs Innenminister Gerhard Karner hat angekündigt, Migranten in Zelten unterzubringen, je nach Bleibewahrscheinlichkeit. Ist das einem Land wie Österreich überhaupt würdig?

Sie wissen, dass ich mit manchem Zungenschlag der österreichischen Politik im Umgang mit der Europäischen Gemeinschaft mehrfach nicht einverstanden war. Internationales Recht und unsere Werte müssen im Umgang mit allen Menschen, egal woher sie kommen, eingehalten werden. Auch Bürgermeister müssen eingebunden werden, sie kennen die Lage vor Ort am besten.

 

Die Bürgermeister wollen gar keine Zelte in ihren Gemeinden haben.

Deshalb: Einbinden, Rücksicht nehmen, gemeinsam Maßnahmen erarbeiten. Aber ohne einer gemeinsamen europäischen Politik wird es nicht gehen. Wir müssen auch die Möglichkeit schaffen, sich an der EU-Außengrenze registrieren zu lassen, um differenzierte Asylverfahren durchführen zu können. Hier sind wir säumig.

 

Sie hatten vorgeschlagen, das Einstimmigkeitsprinzip einer Volksabstimmung zu unterziehen. Bei einer Abschaffung haben kleinere Länder aber die Sorge, „überfahren“ werden zu können. Zurecht?

Die EU hat nur in den Bereichen, in denen wir an die Grenzen der Gemeinschaft stoßen – die Krisen zeigen uns das – das Einstimmigkeitsprinzip. Deshalb steht völlig außer Streit, dass wir das beseitigen und durch die demokratische Mehrheit ersetzen müssen, um handlungsfähig zu bleiben. Wer das Einstimmigkeitsprinzip verteidigt, unterstützt Erpressbarkeit und Blockaden.

 

Gemeinsam müssen Sie zum Beispiel über die Russland-Sanktionen entscheiden, wo die Gefahr einer Blockade droht.

Da hat man aber zumindest die gemeinsame Einsicht, dass alles, was Putin bisher getan hat, Recht, Werte und Verträge bricht. Daher sind die Mitgliedsstaaten hier sehr zusammengeschweißt. Dass wir am Weg sind, gemeinsames Gas einzukaufen, eine Zufallsgewinnsteuer möglich machen und von den Energieimporten aus Russland unabhängig werden, zeigt das.

 

Gibt es Spielraum für weitere Sanktionen, sollte Putin weiter eskalieren?

Wir haben es mit Terror zu tun. Putin setzt täglich drei terroristische Aktionen: Er bombardiert zivile Infrastruktur, er schafft bewusst Vertreibung und entführt Kinder ins eigene Land. Deshalb sind wir uns einig, dass kein Euro mehr in die russische Kriegskasse fließen darf.

 

Hier müsste man also nachschärfen?

Ja, wie bei allen Schlupflöchern. Und es muss zu einem Embargo bei der Hochtechnologie kommen, weil das direkten Einfluss auf das Militär hat. Die Taktik Putins, den Westen zu spalten, darf nicht aufgehen.

 

Die Gefahr besteht aber.

Die Gefahr besteht immer.

 

Die EU hat sich zum Beitritt der Ukraine verschrieben. Dort gibt es aber noch innerstaatliche Probleme, was zum Beispiel die Pressefreiheit oder Korruption betrifft. War man mit dem Kandidatenstatus zu schnell?

Ich habe das Beitrittsansuchen der Ukraine sehr unterstützt: Wann, wenn nicht jetzt, muss eine Europäische Union einem Land sagen, dass es Mitglied werden kann, wenn es die Voraussetzungen erfüllt.

 

Der Nebensatz wird aber oft vergessen.

Dieses Land verteidigt gerade die europäischen Werte, bei einer Auseinandersetzung auf europäischem Boden. Es geht dabei auch um uns. Daher haben wir alles zu tun, die Freiheitsbemühungen der Ukraine zu unterstützen. Der Kiewer Bürgermeister Klitschko hat mich gebeten, die Ukraine beim Umsetzen der europäischen Standards zu unterstützen. Deswegen habe ich vorgeschlagen, eine Task-Force auf parlamentarischer Ebene für diese Themen einzurichten, noch vor dem Beitrittsverfahren. Ein Beitrittsprozess dauert, aber es gibt den Willen für den Aufbau demokratischer Strukturen.

 

Können Sie einen Zeitrahmen abstecken?

Nein. Es hängt davon ab, wann der Krieg aus ist, was die Folgen des Krieges sind und wie die innerstaatlichen Entwicklungen sind.

 

Tut es eigentlich gut, die Vorgänge in Ihrer Partei aus sicherer Entfernung beobachten zu können?

Wie gesagt: Die Frage des Vertrauensverlustes macht mir die größten Sorgen. Alle haben die Anstrengungen wahrzunehmen, diesen wieder wettzumachen. Da muss jede Partei ihren Beitrag leisten und das wird nur mit mehr Ehrlichkeit statt Taktik, mehr Nachhaltigkeit statt Populismus und mehr Transparenz möglich sein.

 

Wurde das in Österreich zuletzt zu wenig beachtet?

Mir ist die politische Auseinandersetzung zu stark parteipolitisch emotionalisiert und viel zu sehr auf den eigenen Vorteil bedacht gewesen. Für mich ist Politik mehr als Parteipolitik.

 

Drei Jahre der Legislaturperiode sind auf EU-Ebene um, werden Sie von Ihrer Partei 2024 wieder aufgestellt?

Ich bin seit Jänner Erster Vizepräsident des Europäischen Parlaments. Das ist eine schöne, herausfordernde Ausgabe, die mich erfüllt. Ich stelle mich den Auseinandersetzungen in den aktuellen Krisen und überlege nicht, was mit mir ist. Ich kann diese Frage nicht beantworten.

 

Wann haben Sie das letzte Mal mit Sebastian Kurz gesprochen?

Am Bundesparteitag der ÖVP (im Mai, Anm.).

 

Haben Sie sich sein Buch schon bestellt?

Nein.

 

Haben Sie das vor?

Ja. Weil mich seine Sicht der Dinge interessiert und ich hoffe, dass er gewisse Ereignisse mittlerweile reflektierter betrachtet.

 

Verspüren Sie gegenüber ihm manchmal Groll?

Sie wissen, dass ich nicht immer mit ihm einverstanden war – in inhaltlichen Fragen, aber auch in Fragen von politischem Stil und Verantwortung. Den Blick richte ich jetzt nach vorne, nicht zurück. Dazu gehört auch mein dringender Wunsch, dass die neuen Vorwürfe gegen Kurz von der Justiz rasch aufgeklärt werden, damit die ÖVP endlich mit dem Kapitel abschließen kann.