Auf Wiedersehen, Großbritannien!
Liebe Freundinnen und Freunde!
Vor wenigen Stunden hat das Vereinigte Königreich die Europäische Union auf eigenen Wunsch verlassen. Der Austritt Großbritanniens löst kein einziges Problem und kein einziges Versprechen der Brexit-Befürworter kann umgesetzt werden. Obwohl mit dem Ausgang des Referendums am 23. Juni 2016 vorhersehbar war, dass dieser Tag kommen wird, schmerzt die Entscheidung und lässt Verlierer auf beiden Seiten zurück. Der Brexit schadet dem Vereinigten Königreich und seinen Bürgerinnen und Bürgern, auch schwächt er die Europäische Union.
Wie eine rezente Studie des Londoner Instituts für Wirtschafts- und Sozialforschung (NIESR) zeigt, kostet der Brexit Großbritannien weit mehr als der Mitgliedsbeitrag an die EU und über die nächsten Jahre werden der britischen Wirtschaft umgerechnet mehr als 80 Milliarden Euro verloren gehen. In zehn Jahren wird die Wirtschaftsleistung Großbritanniens um 3,5 Prozent schwächer sein, als sie im Falle einer EU-Mitgliedschaft gewesen wäre.
Der Brexit ist ein Produkt der Verlogenheit im Umgang mit der EU und der Politik im Vereinigten Königreich. Den Verantwortlichen fehlt das Verantwortungsgefühl gegenüber den Menschen, ihnen geht es nur um taktische Machtspielchen. Er ist aber auch ein Spiegelbild der Schwächen im Entscheidungsprozess und der Handlungsfähigkeit der Europäischen Union sowie in der konkreten Darstellung des Mehrwertes der EU-Mitgliedschaft. Diese Schwächen zu beheben, ist das Ziel der Konferenz über die Zukunft Europas, die am 9. Mai 2020 starten soll.
Eine weitere Ursache für den Brexit ist das Mehrheitswahlrecht im Vereinigten Königreich. Es spiegelt die Mehrheitsverhältnisse nicht wieder und kennt keinen Kompromiss – nur ein ja oder nein, gut oder böse. Die europäische Demokratie lebt aber vom Miteinander und daher auch vom Kompromiss. Wir müssen jetzt in die Zukunft blicken und für beide Seiten das Beste aus diesem schlimmen und traurigen Ereignis machen. Die Plenarsitzung am vergangenen Mittwoch hat deutlich gemacht, dass wir bereit sind, einen fairen Zukunftsvertrag und ein ausgewogenes Handelsabkommen zu verhandeln. Wir schlagen keine Tür zu, sondern sagen „Auf Wiedersehen“.
Ihr Othmar Karas
Das Vereinigte Königreich und die EU – die Beziehung im Rückblick
Das Vereinigte Königreich zählte 1957 nicht zu den EU-Gründungsmitgliedern. Nach zwei erfolglosen Ansuchen (1963 und 1967) um die Mitgliedschaft, die beide vom damaligen französischen Präsident Charles de Gaulle blockiert wurden, erneuerte das Vereinigte Königreich – nach dem Rücktritt de Gaulles, am 28. April 1969 sein Mitgliedsansuchen.
Die Beitrittsverhandlungen kamen schnell zu einem Abschluss und am 22. Jänner 1972 wurde der Beitrittsvertrag zur Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) vom damaligen konservativen Premierminister Edward Heath unterzeichnet. Mit 1. Jänner 1973 wurde das Vereinigte Königreich dann effektiv Mitglied in der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft. Bereits einmal – kurz nach dem Beitritt – wurde die Mitgliedschaft auf eine Probe gestellt. Am 5. Juni 1975 wurde auf Initiative von der britischen Arbeiterpartei ein Referendum zur britischen und nordirischen Mitgliedschaft in der EWG organisiert. Mit 67,23 Prozent zu 32,77 Prozent wurde für einen Verbleib in der EWG gestimmt.
Seit damals war das Vereinigte Königreich ein wichtiger und fester Bestandteil der Europäischen Union. Die Beziehungen zum Vereinigten Königreich als EU-Mitglied waren jedoch stets durch großes Entgegenkommen geprägt. So wurde dem Vereinigten Königreich zugebilligt nicht bei jedem Integrationsprozess teilnehmen zu müssen, wenn dies die britische Regierung so wünschte. Dementsprechend wurden dem Vereinigten Königreich immer wieder sogenannte „opt-outs“ (hinsichtlich Schengener Abkommen, Eurozone, Charta der Grundrechte der EU, Justiz und Inneres) zugestanden.
Was steckte hinter dem Referendum?
Der Brexit zeigt das spektakuläre Scheitern des ehemaligen britischen Premierministers David Camerons, der sich immer wieder auf Kosten der Gemeinschaft profiliert hatte. Cameron hatte jahrelang die Anti-EU-Nummer gespielt. Er hatte direkt und indirekt EU-Skepsis geschürt. Er hatte mit Schuldzuweisungen versucht, Politik zu machen, anstatt über die Mitverantwortung des eigenen Landes in der EU ehrlich zu informieren. Er tat so, als könne man in einer sich immer stärker vernetzten Welt Probleme auf nationaler Ebene lösen. Was gut war, kam aus London, was schlecht war, aus Brüssel. Als er dann vor dem Referendum seine Argumentation änderte und plötzlich für einen Verbleib des Vereinigten Königreichs plädierte, konnte es niemanden verwundern, dass ihm die Mehrheit der Bürger (51,90 Prozent) nicht mehr geglaubt hatte.
Der Bumerang, den er selber geworfen hat, flog ihm ins eigene Gesicht. Die Geister, die er rief, wurde er nun nicht mehr los. David Cameron trat nur wenige Wochen nach dem Referendum, am 16. Juli 2016, zurück. Er hatte das Land nicht nur tief gespalten, sondern auch eine irrationale Debatte geschürt, die Wasser auf die Mühlen von Marine Le Pen, Geert Wilders, Nigel Farage und Co ist. Keines der Versprechen der Brexit-Befürworter, die ein unverantwortliches Spiel mit den Sorgen und Ängstender Bürger spiel(t)en, konnte umgesetzt werden – außer der Austritt. Dies sollte eine Warnung an alle Regierungen Europas sein.
Wie gestalteten sich die Verhandlungen?
Die Verhandlungen über den EU-Austritt der Briten stellte die Europäische Union vor besondere Herausforderungen. Noch nie zuvor wollte ein Mitgliedsstaat die Union verlassen. Mit dem am 29. März 2017 von der David Cameron nachfolgenden Premierministerin Theresa May übermittelten „Scheidungsbrief“ wurden die Verhandlungen ursprünglich auf zwei Jahre angesetzt. Diese mussten jedoch auf Grund von Ablehnung des Austrittsvertrages durch das britische Unterhaus zweimalig (bis 31. Oktober 2019, bis 31. Jänner 2020) verlängert werden. Auf Seite der EU führte er ehemalige Kommissar und Chefverhandler Michel Barnier, die Verhandlungen mit ruhiger Hand und schaffte es die Einheit der verbleibenden EU-27 sicherzustellen. Auf der Seite der Briten war durchaus mehr Unruhe zu spüren: Auf unzählige Ministerrücktritte während den Verhandlungen folgte Teresa Mays Rücktritt im Juli 2019. Im Unterhaus konnte keine Einigung zum Austrittsvertrag erzielt werden. PremierministerBoris Johnson folgte ihr nach und konnte durch seinen Erfolg bei den Unterhauswahlen am 12. Dezember 2019 den Brexit besiegeln. Das britische Unterhaus gab am 9. Jänner 2020 grünes Licht für den Austritt.
Das Europäische Parlament begleitete die Brexit-Verhandlungen von Beginn an mit seinen Standpunkten: Insgesamt sieben Entschließungen zu den verschiedenen Stationen der Verhandlungen wurden – mit großen Mehrheiten – verabschiedet. Bei dem Austrittsabkommen hatte das Europäische Parlament das letzte Wort: Am 29. Jänner 2020 stimmte das Europäische Parlament mit 621 Stimmen für das Austrittsabkommen. Damit war der Austritt des Vereinigten Königreiches am 31. Jänner 2020 besiegelt.
Wie sieht das Austrittsabkommen aus?
Durch die Zustimmung zum Austrittsabkommen auf beiden Seiten kann eine geordnete Übergangszeit bis 31. Dezember 2020gewährleistet werden. Es sieht im Kern eine Wirtschaftspartnerschaft und eine Sicherheitspartnerschaft vor.
Durch das Abkommen wird – während den Verhandlungen über die zukünftigen Beziehungen -folgendes garantiert:
- Rechte der EU-Bürgerinnen und EU-Bürger im Vereinigten Königreich und in der EU werden geschützt;
- Das Nordirland-Protokoll bewahrt Integrität des EU-Binnenmarktes und das Karfreitagsabkommen;
- Fortbestand der vier Grundfreiheiten des gemeinsamen Binnenmarkts;
- Das Vereinigte Königreich bleibt Teil des EU-Binnenmarktes;
- Das Vereinigte Königreich bleibt Teil der EU-Zollunion;
- Regelung der finanziellen Verpflichtungen des Vereinigten Königreichs;
- Europäischer Gerichtshof übernimmt Kontrollfunktion bei Umsetzung des Abkommens.
Wie geht es weiter?
Ich bin froh, dass die Europäische Union auf die Expertise von Michel Barnier auch weiterhin zurückgreifen kann. Er wird der UK Task Force, die von der Europäischen Kommission für die zukünftigen Beziehungen zum Vereinigten Königreich eingerichtet wurde, vorstehen.
Das Europaparlament hält sein Wort und wird auch bei den Verhandlungen – die voraussichtlich im März 2020 beginnen – die Rechte der Bürgerinnen und Bürger in den Mittelpunkt stellen. Während der Übergangsphase bis zum 31. Dezember 2020 wird das Europäische Parlament genau darauf achten, dass die Rechte der rund 3,2 Millionen EU-Bürgerinnen und Bürger im Vereinigten Königreich und der 1,2 Millionen Britinnen und Briten in der Europäischen Union gewahrt bleiben.
Die Verhandlungen selbst dürfen zu keinem Binnenmarkt à la carte führen. Wer einen freien Warenverkehr will, muss auch für die Personenfreizügigkeit sein. Wer Zugang zum Binnenmarkt will, muss sich an die Regeln halten. Die Bürgerinnen und Bürger dürfen bei diesen Verhandlungen nicht zum Faustpfand werden. Dafür wird sich das Europäische Parlament einsetzen. Auch hier gilt: Das Europäische Parlament hat das letzte Wort! Schon bei der kommenden Plenartagung Mitte Februar wird es mittels Entschließung seine Positionen für die Verhandlungen über die zukünftigen Beziehungen mit Großbritannien festzurren. Gerne halte ich Sie auch weiterhin auf dem Laufenden!
Fragen und Antworten zum EU-Austritt des Vereinigten Königreich der Europäischen Kommission