VN: “Die Ablehnung des Ausländers steht im Mittelpunkt der Kommunikation”
Judith Kohlenberger und Othmar Karas plädieren im VN-Interview für einen sachlicheren Ansatz in der Migrationsdebatte. Die “Ablehnung des Ausländers” dürfe nicht im Mittelpunkt stehen, vor allem im Hinblick auf fehlende Arbeitskräfte in Österreich.
Von Julia Schilly und Maximilian Werner aus Wien
WIEN Das Parlament ist der Ort der Debatte, also treffen wir uns dort mit Judith Kohlenberger (36) und Othmar Karas (65). Sie ist Migrationsforscherin an der Wirtschaftsuniversität Wien, er seit 1999 für die Volkspartei Mitglied des Europäischen Parlaments und dessen Erster Vizepräsident. Im “Reflektorium” – einem Raum vor der Säulenhalle im Parlamentsgebäude an der Wiener Ringstraße – sprechen sie mit den Vorarlberger Nachrichten über ihr gemeinsam herausgegebenes Buch. “So schaffen wir das” soll einen Beitrag zur Migrationsdebatte leisten.
Ein positiver Ansatz zur Migrationsdebatte ist schon fast ungewöhnlich in Österreich. Woran liegt das?
KARAS Es ist ein Angebot, es soll vermitteln. Wenn man unterschiedliche Meinungen lösungsorientiert zusammenführt, ist die Schnittmenge immer größer als das, was uns trennt. In Österreich, wie auch in anderen Ländern, gibt es immer mehr Politiker, aber auch Medien, die lieber polarisieren, skandalisieren und Schuld zuweisen. Das Ergebnis sehen wir bei Wahlen: Das stärkt die Ränder und die Extreme.
KOHLENBERGER Manche brauchen das Problem, um mit der ungelösten Migrationsfrage auf europäischer und nationaler Ebene Stimmung zu machen und politisches Kapital zu schlagen. Das funktioniert leider immer wieder. Das hat man in Österreich genauso gesehen wie in den Nachbarländern. Negative Emotionen werden aufgegriffen und noch befeuert.
Davon schreibt Ruth Wodak auch in ihrem Beitrag – von einer Kommunikation in “Extremen”. Hat die ÖVP eine Teilschuld an der aktuellen Tonalität?
KARAS Alle Parteien sind mitverantwortlich, auch die Medien. Die einen mehr, die anderen weniger. Wir sind der Auffassung, dass es eine große Mehrheit in der Mitte gibt. Dieses Lösungsorientierte gilt es zu mobilisieren. Dadurch werden die Ränder kleiner, als viele Politiker und Medien sie machen. In Österreich und anderen Ländern habe ich manchmal das Gefühl, dass man sich am Problem profilieren will und nicht an der Lösung und dass nach links und nach rechts geschielt wird, anstatt die Mitte zu einigen.
Die Koalition in Niederösterreich lässt nicht vermuten, dass sich die Debatte versachlicht. Wie konstruktiv kann eine Zusammenarbeit mit Udo Landbauer und Gottfried Waldhäusl sein?
KARAS Ich kenne Herrn Landbauer nicht. Die Zusammenarbeit ist nun leider so. Es hat keinen Sinn permanent zu erklären, dass man es gerne anders gehabt hätte. Ich habe alles dazu gesagt, auch zur Kompetenzaufteilung. Mir bereitet die gesellschaftspolitische Entwicklung, der Umgang mit den Krisen generell große Sorgen. Denn damit geht der Vertrauensverlust der Bevölkerung in die Politik und ihre Institutionen einher. Mangelnde Ergebnisse und Lösungen können zu einer Demokratiekrise führen.
Welche Gefahr geht davon aus, wenn Menschen mit Macht ausgestattet werden, die den Diskurs offenbar nicht wollen?
KOHLENBERGER Auf das Koalitionsabkommen in Niederösterreich angesprochen: Es steht vieles drinnen, das in der Form wahrscheinlich gar nicht umgesetzt werden wird, da es nicht umsetzbar ist. Ein viel diskutiertes Beispiel ist die Pflicht zum Deutschsprechen außerhalb des Unterrichts in der Schule. Wie will man das umsetzen, wenn wir eh schon überall vom Lehrermangel sprechen? Linguistische Forschung zeigt zudem ganz klar, dass das kontraproduktiv ist. Es führt im schlimmsten Fall dazu, dass Kinder ganz verstummen. Das andere ist aber die Diskursebene. In den letzten Wochen sieht man im Schnelldurchlauf, wie sich der ohnehin schon aufgeheizte Diskurs beim Thema Migration und Asyl noch einmal nach rechts der Mitte verzogen hat. Mit den tiefsten Gefühlen und Regungen wurde gespielt und Ängste befeuert. Gar nicht wenige Akteurinnen und Akteure in diesem Land, darunter etwa auch die Wirtschaftskammer, haben schon erkannt, dass wir nicht dicht machen sollten, sondern uns öffnen für die Welt.
Hat Österreich seine Rolle als Einwanderungsland noch immer nicht ganz begriffen?
KOHLENBERGER Der renommierte Migrationsforscher Rainer Bauböck hat vor ein paar Wochen gesagt: “Österreich ist seit Jahrzehnten ein Einwanderungsland, aber in Selbstverleugnung.” Das trifft es sehr gut. Denn die Zahlen zeigen das deutlich, spätestens seit den großen Gastarbeiterabkommen in den späten 60er- und 70er-Jahren. Aber erst seit 2017 haben wir ein Integrationsgesetz. Da ist eine jahrzehntelange Lücke. Das war ein Versäumnis der Politik, da kann man keine Partei ausnehmen.
Sollte die Qualifikation beim Asylverfahren eine größere Rolle spielen, Stichwort Fachkräftemangel?
KARAS Wir sagen in dem Buch ganz klar: Wir haben ein Problem und wie wir es lösen können. Wir müssen klar zwischen Arbeitsmigration und Asylsuchenden unterscheiden. Jede und jeder Flüchtling hat das Recht auf ein faires Asylverfahren. Bis 2030 benötigen wir 500.000 Arbeitskräfte in Österreich. Die Mängelliste des Arbeitsministeriums wird von Tag zu Tag länger.
KOHLENBERGER Und nicht nur Fachkräfte, sondern generell Arbeitskräfte. Der größte Arbeitskräftebedarf liegt in den niedrig- und mittelqualifizierten Sektoren. Die Zahlen der “Rot-Weiß-Rot – Karte”zeigen, dass es noch Luft nach oben gibt. Es ist auch paradox: Es wird nach „qualifizierter Zuwanderung“ gerufen, aber ein großer Teil der ausländischen Arbeitskräfte kann diese Qualifikationen nicht auf dem österreichischen Arbeitsmarkt einsetzen. Es gibt keine Gruppe am Arbeitsmarkt, die so stark von Dequalifikation betroffen ist wie Migrantinnen und Migranten. Das ist volkswirtschaftlich dumm, da uns dadurch Steuereinnahmen entgehen. Für die Betroffenen ist es nicht nachhaltig. Es ist eine Lose-lose-Situation.
KARAS Ich bin Präsident des Hilfswerk Österreich, der Nummer eins bei den mobilen Diensten. Wir brauchen allein in der Pflege bis 2030 über 100.000 Menschen. Diese werden wir nicht in Österreich bekommen, aber auch nicht nur in der EU. Daher müssen wir die Hürden abbauen, warum Menschen, die diese Arbeit machen wollen, nicht zu uns finden. Das sind finanzielle, bürokratische und sprachliche Hürden. Die müssen wir beseitigen.
Gerald Knaus schreibt in seinem Beitrag, dass es kaum noch legale Fluchtwege gibt. Wie bewerten Sie seinen Vorschlag, dass Staaten 0,05 Prozent ihrer Bevölkerungszahl im Jahr an Flüchtlingen durch Resettlement aufnehmen sollten?
KARAS Das halte ich für richtig. Es ist eine bestehende Regelung, die leider nicht ausreichend von allen Mitgliedstaaten erfüllt wird. Das EU-Parlament wird noch im März dafür Sorge tragen, dass wir eine gemeinsame Antwort auf alle Teile des Asyl- und Migrationspakts finden. Wir brauchen einen echten gemeinsamen EU-Außengrenzschutz, einheitliche Asylverfahren und einen solidarischen Verteilungsschlüssel.
KOHLENBERGER Diese Resettlementquote wäre rund 5000 Menschen pro Jahr für Österreich, also nicht viel. Noch im türkis-blauen Regierungsprogramm war ein Resettlement-Abkommen vorgesehen, im türkis-grünen fehlt sogar die Absicht dazu. Ich möchte gar nicht einzelne Parteien in den Fokus nehmen. Aber es zeigt einfach einen generellen Trend, dass wir eher davon abgehen, legale Möglichkeiten zu schaffen.
KARAS Im Moment steht die Ablehnung des Ausländers generell im Mittelpunkt der Kommunikation. Wir müssen sehr aufpassen: Auf der einen Seite brauchen wir Menschen, die zuwandern, und auf der anderen Seite sind wir gegen Migranten. Das passt nicht zusammen. Gerade in so einer heiklen Frage dürfen wir weder mit pauschalen Urteilen operieren, noch Rechtsverletzungen bagatellisieren. Die Fehler Einzelner dürfen wir nicht pauschal gegen alle verwenden. Dafür haben wir einen Rechtsstaat.
Im Mittelmeer sterben Menschen auf ihrem Weg nach Europa. Herr Karas, Sie sind lange in der Politik: Wann ist die Politik so zynisch geworden, dass daraus politisches Kleingeld geschlagen wird?
KARAS Das kann ich leider nicht sagen. Es ist ein Versagen von vielen, dass wir diese Fehlentwicklung haben. Daher treten wir in dem Buch dagegen auf, den Fleckerlteppich in Europa noch zu verstärken, sondern an einer gesamteuropäischen Lösung zu arbeiten. Da ist der Asyl- und Migrationspakt eine gute Grundlage, die im März noch im Parlament verhandelt wird. Wir hoffen, dass die Mitgliedstaaten möglichst rasch noch in Verhandlungen eintreten.
Ohne die Situation kleinzureden: Nicht einmal fünf Prozent der weltweit Vertriebenen befinden sich in Asylverfahren, nur 0,6 Prozent der Gesamtbevölkerung der EU sind Flüchtlinge. Macht die Europäische Politik die Flüchtlingskrise größer als sie ist, schafft sie einen Eindruck, dass sie weniger bewältigbar ist?
KOHLENBERGER Die Relationen werden oft falsch dargestellt. Die reguläre Migration ist der Regelfall und für Europa nicht die Ausnahme. Das ist auch das, wovon der Arbeitsmarkt und die Wirtschaft in Europa immer abhängiger sind. Wenn Sie plötzlich alle ausländischen Arbeitskräfte nicht nur aus Österreich, sondern auch aus anderen Ländern abziehen würden, würde die Wirtschaft komplett zusammenbrechen. Das findet alles regulär und geordnet statt. Und das ist seit Jahrzehnten Normalität in diesem Land und auch in Europa. Darüber redet man aber kaum.
Worüber reden wir?
KOHLENBERGER Eher über diesen, in der Relation betrachtet, verschwindend kleinen Anteil von Flucht und von Geflüchteten. Geflüchtete machen ja nicht einmal 10 Prozent aller Wanderbewegungen weltweit aus, aber sind hyper-sichtbar. Durch eine stete Skandalisierung in den Medien, aber auch in der Politik: Wir reden über Asyl als einen Dauerkrisenzustand. Da geht es vielfach nur mehr um die Emotionen dahinter und eben nicht um die Lösungen. Aber die Normalität ist eher die reguläre, geordnete Migration. Auch deshalb, weil ja mittlerweile 25% aller in Österreich lebenden Menschen einen sogenannten Migrationshintergrund haben.
Und darin liegt das Problem?
KOHLENBERGER Dieser chronische Krisenzustand verstellt auch den Blick auf Lösungen und bestehende Regularien. Da bin ich schnell einmal beim Aushebeln der normalen Regeln, weil wir sind ja im Krisenmodus. So entsteht der Eindruck, dass wir schlampiger sein können, wenn es zum Beispiel um Menschenrechte geht, weil da ist ja Druck am Mann und so weiter. Das ist immer gefährlich. Beim Thema Asyl befinden wir uns seit Jahrzehnten in einer chronischen Krisenerzählung.
In einer chronischen Krise, in der zu wenig getan wird, um einen Ausweg daraus zu finden?
KARAS In der Europäischen Union dramatisieren wir die Krise nicht. Unser Hauptproblem ist, dass das nicht gemacht wird, was wir vereinbart haben: Das Nicht-Einhalten des Rechts, das Nicht-Einhalten unserer innereuropäischen Regelungen. In Österreich haben wir eine starke Debatte gehabt über die Frage der Asylansuchen vor wenigen Monaten. Die Ursache war die Visapolitik von Serbien. Diese hat bei uns zu dieser erhöhten Flüchtlingsanzahl geführt.
KOHLENBERGER Und die Menschenrechtsverletzungen in Ungarn.
KARAS Dort wurde nicht registriert, es wurden keine Asylanträge gestellt und alle sind bei uns gelandet. Beides hätte nicht passieren dürfen.
Sollte Österreich mehr auf das Einleiten von Verfahren gegen diese Länder pochen?
KARAS Wir sollten uns natürlich zum Motor, gerade wegen unserer Betroffenheit, für eine gemeinsame Asyl- und Migrationspolitik in Europa machen und alles verhindern, dass der Fleckerlteppich mehr wird. Fleckerlteppich bedeutet, dass die Lücken mehr werden. Und das Zweite, was wir tun sollten innerhalb Europas, ist, dass die Regeln, die wir uns geben, von allen eingehalten werden.
Aber zum Beispiel das politische Verhältnis Österreichs zu Ungarn, das Sie angesprochen haben, das scheint ja trotz dieser Situation, in der wir im Moment sind, noch ziemlich intakt zu sein. Ist das ein Ungleichgewicht? Weil eigentlich müsste doch Österreich viel schärfer auf diese Menschenrechtsverletzungen reagieren.
KARAS Ich sage Ihnen ganz offen: Ich hoffe, dass das Verhältnis, vor allem das Gesprächsverhältnis zwischen den Staaten innerhalb der Europäischen Union, generell intakt ist. Ich bin aber klar dagegen, dass man glaubt, dass man das Problem bilateral lösen kann. Das Problem können wir nur europäisch lösen. Und ich bin froh, dass die Europäische Union viel stärker als je zuvor gegen Rechtsverletzungen in Ungarn vorgeht und dass dieses Fehlverhalten endlich auch öffentlich debattiert wird.
Eine offene Gesprächsbasis ist natürlich grundlegend für eine funktionierende Europäische Union, aber wäre nicht doch ab und zu ein kritisches Wort gegenüber Ungarn auch wichtig?
KARAS Selbstverständlich, ja. Es ist jedes Wort wichtig, wenn jemand Recht, die Zusammenarbeit in Europa und den Respekt gegenüber den Menschen verletzt. Man sollte die politische Auseinandersetzung nicht vermeiden über all diese Fragen, weil nur dann auch das politische Bewusstsein geschaffen wird. Das ist ja unser Problem, dass wir mit der Personalisierung und der Nationalisierung aller Themen sehr viele Debatten verhindern.
KOHLENBERGER Das war auch der Impetus für das Buch. Da geht es nicht um links oder rechts, weil das Thema Migration, Asyl, Integration, das geht uns alle an. Und weder rechts der Mitte noch links der Mitte kann man – wenn man es logisch zu Ende denkt – wollen, dass diese Probleme weiter bestehen. Das war für uns auch die Zielsetzung: Zu sagen, wie würde man, wenn man all dieses politische Gedöns ausblendet, das Problem lösen. Und das Spannende ist, dass uns gelungen ist, trotz der sehr unterschiedlichen Disziplinen, Blickwinkel, Perspektiven, viel Gemeinsames herauszuarbeiten. Und dass es gar nicht so schwierig war, zu einer Synthese von zentralen Forderungen zu kommen.
KARAS Das Buch ist Programm, es ist über das Thema hinausgehend. Ich kann es Ihnen ja gestehen, es ist ja kein Geheimnis: Ich habe die Menschen zusammengebracht, weil ich einmal zuhören wollte. Und als ich das getan habe, habe ich gemerkt, dass wir eine gemeinsame Grundlage haben, obwohl wir nicht in allen Fragen einer gemeinsamen Meinung sind.
Sie schreiben im Vorwort, dass zum Beispiel die politische Mitte bei der Flüchtlingskrise 2015 versagt hat. Woran liegt es, dass, wenn eigentlich alle eine Lösung dafür wollen, wenn alle betroffen sind, wir bei dem Thema keine Basis finden?
KARAS Weil die, die sich in der Öffentlichkeit äußern, in einem hohen Ausmaß nur das Problem problematisieren und leider der politische Wille zur gemeinsamen Lösung noch nicht ausreichend vorhanden ist. Zu viele schauen nur auf ihre eigenen Probleme und nicht auf die gemeinsame Lösung.
KOHLENBERGER Wenn man alle Forderungen im Buch umsetzen würde, hätten wir auf europäischer Ebene ein funktionierendes gemeinsames Asylsystem, wir hätten legale Fluchtrouten, wir würden damit auch das Schlepperwesen bekämpfen, wir würden vor allem das Massensterben im Mittelmeer beenden und so weiter. Womit würde dann ein Viktor Orbán Politik machen und die nächste Wahl gewinnen? Das ist eine ganz konkrete Frage, worauf er wohl selber keine Antwort weiß.
KARAS Oh ja, er schon.
KOHLENBERGER Weil Ungarn noch stärker den demografischen Wandel spürt, hat Orban im vergangenen Jahr ein Gastarbeiterabkommen mit Indonesien geschlossen. Klammheimlich. Der wirtschaftliche und demografische Druck war groß und er hat gesehen, dass sich das mit einer migrationsskeptischen Haltung nicht ausgeht. Allein aus der wirtschaftlichen Notwendigkeit heraus kann es sich Europa perspektivisch nicht mehr lang leisten, sich abzuschotten und auf Abschreckung und Auslagerung zu setzen.
Sie haben jetzt immer wieder ein gemeinsames europäisches System, aber auch die vielen Rechtsverletzungen angesprochen. Welche Aspekte fehlen denn im System noch, um tragfähig zu sein?
KARAS Es fehlt weniger am Programm als am politischen Willen, weil das natürlich auch eine Stärkung der Gemeinschaft bedeutet. Wir können diese Fragen nicht durch die Verteidigung des nationalen Rechts und der nationalen Grenzen lösen. Der wichtigste Punkt ist, dass wir den Umgang mit dem Problem ändern und dass das Geschäftsmodell, dass man damit Wahlen gewinnen kann, nicht mehr funktioniert.
Dafür muss man gar nicht nur nach Ungarn schauen. Das ist natürlich bei uns auch gerade ein großes Thema. Wie könnte man die Debatte in Österreich irgendwie in Bahnen lenken?
KARAS Ich glaube, dass in dieser Frage ein wirklicher Schub dadurch passieren kann, dass das Europäische Parlament im März eine Position zum Asyl- und Migrationspakt findet. Mein Vorschlag ist, ganz am Anfang die unstrittigen Punkte festzulegen und direkt zu beschließen und erst am Ende das Trennende zu diskutieren. Wir müssen vorankommen und den Prozess beginnen.
Wäre das auch eine Aufgabe von der ÖVP, so in die Debatte einzusteigen?
KARAS Es müssten sich alle politischen Kräfte, vor allem die, die in Regierungen sitzen, diesem Ziel verschreiben. Dann wäre zwischen Bewusstseinsbildung und Verhandlung eine gute Grundlage geschaffen.
KOHLENBERGER Es braucht einen anderen Migrationsdiskurs. Der muss zu einer gesellschaftlichen Diversitätskompetenz führen. Weil die haben wir nicht. Wir müssen wissen, wahrnehmen und uns dazu bekennen, dass wir in einer pluralistischen Gesellschaft leben: Was bedeutet das für alle hier? Und das beinhaltet auch, gewisse rote Linien zu definieren. In diesem Land sind Dinge sagbar, die nicht sein können im Jahr 2023. Das kommt meistens von ganz rechts außen, ja, aber leider wird das dann befeuert, aufgegriffen und noch populistisch verstärkt. Auch von Parteien, die sich innerhalb des sogenannten Verfassungsbogens befinden. Das macht Menschen, die seit Jahrzehnten oder vielleicht auch erst seit einigen Wochen hier sind, fremder, als sie eigentlich sind. Und das schwächt irgendwann alle.
Inwiefern?
KOHLENBERGER Wenn Ausgrenzung und Segregation in einer Gesellschaft zunehmen, dann schwächt es nicht nur die Ausgegrenzten, sondern auch die, die eigentlich eh zum „Wir” dazu gerechnet werden. Das führt zu volkswirtschaftlichem Schaden, Gesundheitswerte sind schlechter, höhere Kriminalitätsraten, ich könnte das durchdeklinieren. Wir werden also alle stärker, wenn alle dazugehören.
Da war gerade zuletzt dieses Video vom Wiener Stadtrat Karl Mahrer Thema. Er spaziert über den Wiener Brunnenmarkt und kritisiert, dass dieser von Syrern und Arabern übernommen werde. Solche rassistischen Aussagen widersprechen offensichtlich den christlich-sozialen Wurzeln der ÖVP. Fehlt in der Partei vielleicht eine moralische Instanz, die drauf schaut, dass so etwas nicht passieren kann, die die Funktionäre ermahnt?
KARAS Ich glaube, dass wir in diesem Gespräch ein anderes Bild vom Umgang miteinander gezeichnet haben.
KOHLENBERGER Du würdest dich selbst nicht als moralische Instanz bezeichnen, aber ich tue es.
Margaritis Schinas, Vizepräsident der EU-Kommission, hat im Buch geschrieben, dass eine gemeinsame Migrationspolitik zum Greifen nahe wäre, das hätte das humanitäre Verhalten beim Krieg in der Ukraine gezeigt. Sehen Sie diesen Funken Hoffnung auch? Weil im Moment scheint die Debatte doch sehr verhärtet.
KARAS Ich weiß ja, was er gemeint hat.
KOHLENBERGER Es ist gut, dass er sehr hoffnungsfroh ist, oder?
KARAS Die Kommission hat seit 2015 – da haben wir ja gesehen, wie schwach wir aufgestellt sind – versucht, Vorschläge zu machen, wie sie glaubt, dass sie das beantworten kann. Seitdem hat sich vieles getan, um das sehr klar zu sagen. Das weiß er.
KOHLENBERGER Und wir haben gesehen, wie wichtig die legalen Fluchtrouten waren. Dass Ukrainer schon vor der Aktivierung der Massenzustromrichtlinie legal visafrei für drei Monate in die EU einreisen konnten, war ja ein Kernelement. Das hatte viele positive Effekte, unter anderem, dass gerade vulnerable Gruppen diesen Weg viel leichter antreten konnten, was ja bei Drittstaaten, also Angehörigen aus Syrien, Afghanistan, nicht der Fall ist. Und somit war Flucht immer noch anstrengend und gefährlich, aber natürlich nicht zu vergleichen mit den oft wochenlang andauernden Fluchtwegen auf irregulärem Weg. Und wir haben auch für die Aufnahmestaaten dafür gesorgt, dass an den Grenzen kein Chaos herrscht, dass nicht Bilder erzeugt werden, die Ängste schüren. Das war relativ geordnet, ist relativ regulär abgelaufen und das hat eben auch die Aufnahmebereitschaft erhöht.
KARAS Wir haben bei dieser Frage eben eine gemeinsame europäische Rechtsgrundlage gehabt und keinen Fleckerlteppich. Die Regeln wurden in allen Mitgliedstaaten gleich angewandt. Das war, glaube ich, ein Riesenschritt. Es zeigt uns, trotz der unterschiedlichen Zugänge, dass wir es schaffen können, wenn wir wollen.
Es kann also ein Vorbild sein.
KOHLENBERGER Ja, tatsächlich. Neben den rechtlichen Aspekten könnte man aber auch andere Dinge ableiten: Dass, wenn Putins Bomben nur einige Hundert Kilometer weiter westlich gefallen wären, wir Westeuropäer die Flüchtlinge gewesen wären. Und wir froh gewesen wären, uns auf die Massenzustromrichtlinie, aber auch die Genfer Flüchtlingskonvention berufen zu können.