SN-Sommergespräch: „Dürfen uns nicht hinter der Neutralität verstecken“
Krisen waren stets ein Nährboden für den Nationalismus. Hinter der Neutralität dürfen wir uns nicht verstecken. Ein SN-Sommergespräch mit dem Ersten Vizepräsidenten des Europäischen Parlaments, Othmar Karas (ÖVP), in Nußdorf am Attersee über Ich-AGs, Nationalismen, den Frieden, die Neutralität, die Unabhängigkeit und die Versäumnisse in der Klimapolitik. Von Marco Riebler.
SN: „Wir sind zu sehr dem Parteibuch verpflichtet, zu wenig den Menschen“, diesen Satz nehmen Sie gerne in den Mund. Ist die Distanz zu den Menschen inzwischen untragbar geworden?
Ich sehe keinen Zwang, dass automatisch Partei und Mensch im Widerspruch stehen müssen. Wir leben in der europäischen Demokratie in einer Parteiendemokratie, daher spielen Parteien als Instrument der Demokratie eine wichtige Rolle. Es gab und gibt aber leider Personen in Parteien, die die Partei als Ich-AG und als Selbstzweck betrachten und betrachtet haben. Aus diesem Verständnis heraus wurden der Staat und die Demokratie zu sehr auf Parteien reduziert. Das Ergebnis spiegelt der Vertrauensverlust in die Politik nun wider.
Politik ist das Streben nach dem Machtanteil, schreibt Max Weber, wie definieren Sie die Macht für sich?
Als Instrument. Umso mehr Macht, umso mehr Einfluss, umso mehr Verantwortung. Macht beinhaltet die Möglichkeit zu gestalten. Am Beginn meiner politischen Karriere hatte ich einen unglaublichen Widerwillen, wenn ich das Wort Macht nur gehört habe. Denn Macht und Machtmissbrauch liegen sehr eng beisammen. Für mich ist der entscheidende Punkt, dass wir PolitikerInnen uns immer vor Augen führen müssen, dass wir Verantwortung für die Menschen übernehmen und für die Zukunft. Diese Verantwortung setzt voraus: Ehrlichkeit, Transparenz und ein Bild einer Gesellschaft, in der jeder Teil des Ganzen ist und nicht das Ganze auf sich selbst reduziert. Wir müssen ehrlich mit den Krisen umgehen und nicht mit ihnen spielen. Die Komplexität jetzt ist gepaart mit Herausforderungen, die wir seit 1945 nicht hatten. Diese Ehrlichkeit in den Krisen vermisse ich. Es ist schließlich die Aufgabe der Politik, Verantwortung zu übernehmen und Komplexitäten nicht zu ignorieren, sondern gemeinsam zu lösen.
Da die Krisen unserer Zeit keine nationalen Grenzen kennen?
All die Krisen, Chancen und Herausforderungen finden global statt und gleichzeitig. Die Teuerung, die Inflation, der Krieg, die Pandemie, der Klimawandel, das Streben nach Unabhängigkeit, der Vertrauensverlust in die politischen Akteure. Alles ist miteinander verflochten. All diese Probleme kennen keine nationalen Grenzen. Es braucht den Willen aufeinander zuzugehen und gemeinsam an Lösungen zu arbeiten.
Ein passendes Zitat, das oft Loriot zugeschrieben wird, lautet: „In Krisenzeiten suchen die Intelligenten nach Lösungen, Idioten nach Schuldigen.“ Da sind wir wieder bei der Europäischen Union. Sie ist die Antwort auf Krieg, Nationalismus, Antisemitismus und auf ein falsches Machtdenken. Sie hat als Wesen die Zusammenarbeit. Europäische Union bedeutet: Demokratie, Rechts- und Wertegemeinschaft und Friede in Freiheit. Das sind aber keine Selbstverständlichkeiten und müssen täglich aufs Neue errungen werden.
Das, was Sie ansprechen, wäre ein Paradigmenwechsel, auf nationaler Ebene gibt es dieses Verständnis nämlich nicht.
Wir waren in diesem Zusammenhang schon weiter, als wir uns entschieden haben, der EU beizutreten. Als wir argumentieren mussten, warum die EU gut ist für die Menschen, für Österreich, in unserer geopolitischen Lage und im Lichte unserer Geschichte. Diese guten Argumente haben wir stufenweise abgebaut und verschwiegen, seitdem wir drinnen sind. Wir müssen endlich die Lehren aus den Fehlern und Krisen der vergangenen Jahre ziehen, statt zu glauben, dass wir zur Tagesordnung übergehen können. Die nationale Karte ist nicht Teil der Lösung. Sie hat die Schwächung jeder Gemeinschaft zur Folge. Ich habe das Gefühl, dass es trotz der Krisen wieder mehr Politiker gibt, auch Staaten, die sagen, jetzt haben wir die Chance, den Nationalismus zu stärken, um uns nicht ändern zu müssen, um uns mit der Schuldzuweisung von der Veränderung freizukaufen. Was Verantwortungsloseres, Kleinkarierteres und Geschichtsloseres habe ich in den letzten Jahren nicht erlebt.
Von welchen Ländern sprechen Sie konkret?
Denken wir an an Orbán in Ungarn, die Rechtsbrüche in Polen, die Wahl in Frankreich oder an die Entwicklung in Italien. Denken wir aber auch an Österreich, wenn Politiker die Sanktionen gegen Russland infrage stellen und fordern, diese zu beenden. Dadurch wird verniedlicht, dass die Ursache der Sanktionen der Angriffskrieg Putins, der Einmarsch in einen souveränen Nachbarstaat war. Die Sanktionen sind nicht auf eine Ebene mit dem Krieg zu stellen. Sie sind unsere friedliche, wirtschaftliche Antwort. Mit einem Unterschied: Ja, wir zahlen aktuell einen hohen ökonomischen Preis. Das ist mir mehr als bewusst. Aber der Preis, den wir als ÖsterreicherInnen aktuell zahlen, ist ein Preis, den wir in Geld messen können. Der Preis, den die UkrainerInnen zahlen und in den letzten Monaten leider bereits gezahlt haben, der wird in Leben gemessen, die jeden Tag verloren gehen. Die Europäische Union ist eine Frage von Demokratie, Werten und Rechten, von Wohlstand und von sozialem Zusammenhalt. Es geht um eine Systemauseinandersetzung zwischen Demokratie und Diktatur. Daher bin ich sehr betroffen, dass nicht Alle alles daransetzen wollen, um die Ukraine bei der Verteidigung unserer Werte zu unterstützen. Vor Faschisten und Diktatoren in die Knie zu gehen würde bedeuten, dass die Gewalt gegenüber der Freiheit und dem Frieden siegt.
Der Krieg, die Energiekrise und die Folgen der Pandemie haben einen direkten Einfluss auf die Menschen. Sind diese direkt wahrnehmbaren Entscheidungen der Politik über die Bevölkerung ein Nährboden für Nationalismus?
Ja – aber es ist kein Grundgesetz. Es liegt an der Mehrheit, also an uns. Oder sagen wir so: Es war in der Geschichte immer so, dass soziale Spannungen und Umbrüche bewusst missbraucht wurden für eigene parteipolitische, machtpolitische Zwecke. Aber das muss nicht so sein. Es kommt drauf an, ob sich genügend Menschen finden, die nicht mit den Problemen spielen, sondern die Ursachen der Probleme lösen wollen. All die Fragen, so schwierig sie sind, sind im Miteinander lösbar. Wir haben viel Zeit verloren, auch verspielt, und haben jetzt wenig Zeit. Wir sind durch den Krieg hoffentlich gescheiter geworden. Wir haben es in der Hand, nicht nur von fossilen auf erneuerbare Energiequellen umzustellen. Wir haben es auch in der Hand, Energie einzusparen. Dort liegt das höchste Potenzial! Wir müssen sehen, dass Jahrzehnte hindurch, nicht nur in Österreich, die Systemunterschiede nicht Teil der politischen Debatten waren, sondern dass stets der Preis bestimmt hat. Solange die Energie billig war, war es uns wurscht, woher sie kommt. Zu einem sozialen Gemeinwesen gehören die Würde des Menschen, Vertrauen und Gerechtigkeit. Der Preis kann nicht das Zusammenleben bestimmen. Das Zusammenleben bestimmt auch die Verantwortung gegenüber den Nachbarn. Und nicht nur gegenüber uns selbst.
Sie fordern ein sozialdemokratisches Europa.
Ich halte von diesen parteipolitischen Punzierungen nichts. Ich fordere eine demokratischere, effizientere, sozialere, grünere und entschlossenere Europäische Union. Europa ist nie die Frage Österreich oder EU. Europa ist immer die Frage: Macht jeder was er will – oder machen wir es gemeinsam?
Müssen wir die Neutralität infrage stellen, um unseren Nachbarn gegenüber fair zu handeln?
Nein, wir dürfen uns aber auch nicht hinter ihr verstecken. Wir sollten der Bevölkerung ehrlich sagen, dass der Aufbau einer handlungsfähigen europäischen Außen- und Verteidigungspolitik nicht im Widerspruch zu unserer Bundesverfassung steht. Wir sollten keinen Konflikt konstruieren, den es nicht gibt. Österreich gehört zu den aktivsten Mitgliedern der NATO-Partnerschaft für den Frieden und nimmt an internationalen Friedenseinsätzen teil. Die Bedrohung unserer Freiheit, Sicherheit und Demokratie – Stichwort Cyberkriminalität und Terrorismus – bedarf vielfältiger Anstrengungen. All diese Bedrohungen können nicht mit der Neutralität beantwortet werden, sondern nur mit einer kompatiblen Zusammenarbeit. Daher trete ich ganz massiv dafür ein.
Ein schwieriges Unterfangen bei der Inkompatibilität der Armeen.
Wir wissen durch den Angriffskrieg auf die Ukraine, dass Friede keine Selbstverständlichkeit ist. Wir haben 27 Heere und diese sind großteils nicht kompatibel – da sie kein gemeinsames Beschaffungswesen haben, keine Normen, keine gemeinsamen Pläne. Das soll sich jetzt durch den Strategischen Kompass der EU, den auch Österreich mitbeschlossen hat, ändern. Dieser würde die Zusammenarbeit der nationalen Heere verstärken und wäre ein erster wichtiger Schritt zu einer gemeinsamen EU-Verteidigungsunion. Es geht darum, die nationalen Armeen im Sinne der europäischen Zusammenarbeit zu reformieren und zu stärken. Das spart Geld und erhöht die Effizienz. Daher trete ich auch dafür ein. Wir müssen den Strategischen Kompass auf konkrete Projekte herunterbrechen und der Bevölkerung erklären, was die Zusammenarbeit bringt. Ich fordere, dass die national angekündigten Investitionen in die Heere, im Sinne und auf Basis dieses Plans geschehen.
Gehen wir zurück zum Klimawandel. Wir kennen die Folgen des Klimawandels seit dem Bericht des Club of Rome vor 50 Jahren. Wenn uns die Kinder und Kindeskinder Totalversagen vorwerfen, haben sie recht?
Unsere Kinder können uns vorwerfen, dass wir zu spät zugehört, zu spät die Augen aufgemacht und zu spät tiefgreifend gehandelt haben. Aber: Das, was jetzt passiert und was die Politik in Europa seit Jahren macht, ist, den Schalter umzudrehen. Daher können sie uns noch nicht vorwerfen, dass wir versagt haben, wenn wir das tun und das erreichen, was wir uns vorgenommen haben. Daher bin ich sehr dagegen, dass wir den Krieg, die Inflation, die Teuerung und die Pandemie gegen die notwendigen Maßnahmen des Klimawandels ausspielen. Sondern eigentlich ist das Paket eines, das uns nach vorne bringt und Zukunft sichert. Unabhängiger zu werden heißt, nicht erpressbar zu sein. Weltmarktführer zu werden heißt, die Wettbewerbsfähigkeit des Kontinents zu erhöhen. Klimaneutral zu sein heißt, die Folgeschäden des Klimawandels einzubremsen. Wir dürfen aber nicht naiv sein. Alles das, was wir bisher beschlossen haben, reicht nicht aus. Die letzte Klimakonferenz in Berlin hat deutlich gezeigt, dass wir im Moment am Weg zu drei Grad Erderwärmung sind. Wir müssen auf unter zwei Grad zurückkommen. Daher zeigt uns auch die Thematik, die wir jetzt haben, Teuerung, Lieferketten, Erpressbarkeit und zu geringe Umstellung auf Erneuerbare, dass wir diesen Prozess beschleunigen müssen. Wenn wir das nicht machen, überholen uns auch im Kampf gegen den Klimawandel im Punkto Wettbewerbsfähigkeit andere. Bei uns bleiben dann soziale Spannungen, Erpressbarkeit und Spaltungstendenzen zurück. Ich werde alles tun, damit die ökosoziale Marktwirtschaft nicht wieder in die Teile Marktwirtschaft versus Sozialpolitik versus ökologische Verantwortung zerfällt. Wenn wir das schaffen, dann war es nicht zu spät. Ich würde nicht von Versagen sprechen, aber Versäumnisse kann man uns unterstellen. Das Endurteil ist hoffentlich noch nicht zu fällen. Auch die Mondmission wurde innerhalb von acht Jahren aufgestellt. Auch wir haben noch acht Jahre Zeit.
Haben wir auch die richtigen politischen Akteure dafür?
Salopp gesagt: In jeder Diktatur nein und in jeder Demokratie sind wir selbst dafür verantwortlich. Aber: Ich würde mir wieder einen verstärkten Wettbewerb von Menschen aus der Gesellschaft wünschen. Mir fehlt die Suche nach den Besten, es sind zu wenig Verantwortung und Weitblick vorhanden. Jene Staatsfrauen und Staatspolitiker, die Verantwortung übernehmen und für das werben, was richtig und wichtig ist, sind spärlich. Es braucht Mut, Ehrlichkeit und Verantwortung. In Österreich wie in Europa.