Österreich

SN: „Aufruf eines glühenden Europäers“

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SN: Angenommen, ein  Außerirdischer fragt Sie, was die EU eigentlich ist. Was würden Sie antworten?

Karas: Ich würde ihm sagen, die Europäische Union ist das erfolgreichste politische Projekt nach 1945, das sich aufgemacht hat, die Lehren aus der Vergangenheit zu ziehen und durch Zusammenarbeit die enormen Herausforderungen der Zukunft zu bewältigen.

SN: Welche sind das?

Karas: Wir sind seit einigen Jahren mit Umbrüchen und Krisen in einer Dichte konfrontiert, wie es sie noch nie gab: Nehmen Sie den Klimawandel, die Coronapandemie, die Digitalisierung und die Künstliche Intelligenz – damit zusammenhängend Desinformation und Wahlmanipulation. Oder nehmen Sie die Migration und die Frage der militärischen Sicherheit. Spätestens seit dem russischen Angriff auf die Ukraine ist uns ja allen bewusst geworden, dass Friede, Freiheit und Demokratie kein Naturgesetz sind. –  Alles das sind Probleme, die ein Staat allein niemals bewältigen kann. Das geht nur gemeinsam.

SN: Es gibt aber Kräfte, die in der EU nicht die Lösung, sondern das Problem sehen.

Karas: Jeder, der uns erklärt, dass es auf diese komplexen Fragen einfache Antworten gibt, ist ein Blender. Jeder, der behauptet, es gäbe eine einzige nationalstaatliche Antwort, ist unaufrichtig.

SN: Trotzdem werden genau diese Kräfte stärker. Warum?

Karas: Wir wissen aus der Geschichte: Wenn die Menschen Angst haben und sich ohnmächtig fühlen, sind sie für scheinbar einfache Antworten empfänglich. Daher ist es so wichtig, dass die Zusammenarbeit in Europa forciert wird. Ohne Zusammenarbeit keine Handlungsfähigkeit, ohne Handlungsfähigkeit keine Lösungen, ohne Lösungen keine Reduzierung der Extreme. Das heißt, die Verantwortung für die Reduzierung der Extreme liegt bei der politischen Mitte, die das Gemeinsame vor das Trennende stellen und parteien- und nationenübergreifend handeln muss.

SN: Aber genau diese politische Mitte droht am Sonntag geschwächt zu werden.

Karas: Die Extreme sind nicht in der Mehrheit und werden das auch nach der Wahl am Sonntag nicht sein. Christdemokraten, Sozialdemokraten, Liberale und Grüne werden eine klare Mehrheit haben und sie, so hoffe ich, für eine Weiterentwicklung und Vertiefung des europäischen Projekts und für Reformen einsetzen. Aber jede Wahl – ob in Europa oder den USA – ist momentan eine Richtungsentscheidung zwischen Stärkung der Demokratie oder Autoritarismus, zwischen Zusammenarbeit oder Schuldzuweisungen, zwischen Mut machen oder Angst schüren. Da geht es um zwei unterschiedliche Gesellschaftsmodelle. Deswegen ist am Sonntag jede Stimme wichtig.

SN: Halten Sie es für denkbar, dass das Projekt EU scheitert?

Karas: Wenn ich logisch denke und Politik als etwas ansehe, das Herausforderungen als Chancen begreift und Probleme lösen will, sage ich: nein. Wenn ich mir die aktuelle Situation ansehe, wo das Einstimmigkeitsprinzip von manchen Staats- und Regierungschefs nicht als Verpflichtung zur Zusammenarbeit, sondern als Erpressungs- und Blockademittel angesehen wird, oder wenn ich mir die wachsenden Extreme ansehe, die Europa zerstören wollen, dann sage ich: Wir dürfen nicht zur Tagesordnung übergehen.

SN: Sondern?

Karas: Es darf keine Anbiederung an die 30 Prozent der Extremen geben, sondern die Mehrheit muss über die Ursachen dieser 30 Prozent nachdenken. Und diese Ursachen beseitigen. Das ist unser Auftrag! Wenn wir die Europäische Union nicht vertiefen, weiterentwickeln und handlungsfähig machen, wird Europa zerfallen. Dann spielen wir in der neuen geopolitischen Ordnung der Welt keine Rolle.

SN: Was meinen Sie mit Weiterentwicklung?

Karas: Die Projekte der Zukunft liegen klar am Tisch: Erstens eine gemeinsame Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Zweitens eine Demokratisierung und Beschleunigung des Entscheidungsprozesses – das heißt: kein Einstimmigkeitsprinzip. Drittens eine Technologieoffensive mit dem Ziel der Weltmarktführerschaft in den grünen Technologien. Und viertens eine Vertiefung des Binnenmarktes – Stichwort Energieunion und Sozialunion.

SN: Eine persönliche Frage: Sind Sie noch ÖVP-Mitglied?

Karas: Ja.

SN: Trotz aller Differenzen?

Karas: Ich bin bei der ÖVP, weil ich überzeugter liberaler Christdemokrat bin. Außerdem glaube ich, dass wir einem grundlegenden Denkfehler aufsitzen, wenn wir Parteiloyalität damit gleich setzen, dass man immer gleicher Meinung sein muss. Parteien sind Instrumente der Demokratie, aber nicht Selbstzweck. Ein Abgeordneter wird zwar von einer Partei auf eine Liste gesetzt, aber er ist primär den Menschen und der Zukunft verantwortlich, nicht der Parteitaktik. Jeder Politiker trägt Eigenverantwortung. Wie auch jeder Wähler.

SN: Sie sind von grüner und Neos-Seite als nächster EU-Kommissar genannt worden. Freut Sie das?

Karas: Es freut mich, weil ich es als Anerkennung meiner parteiübergreifenden Tätigkeit im Europäischen Parlament ansehe. Aber ich weiß, dass der Kommissar eine Mehrheit im Hauptausschuss des Parlaments braucht. Also man wird sehen.