Österreich

OÖN-Interview: „Leider werden wir ein bissl kleingeistig“

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LINZ. In diesen Wochen tourt Othmar Karas (VP) quer durch Österreich, um über die großen europäischen Herausforderungen zu debattieren. Als Basis dient dem Ersten Vizepräsidenten des EU-Parlaments sein Urlaubsdomizil am Attersee. Von dort war es nur ein Katzensprung zum Interview mit den OÖNachrichten in Linz.

 

OÖNachrichten: Sie waren bei der Eröffnung der Festspiele in Bregenz dabei. Wie hat Ihnen die Rede von Bundespräsident Alexander Van der Bellen gefallen? Teilen Sie seine Kritik an der aktuellen Politik?

Othmar Karas: Was er angesprochen hat, hat meine volle Unterstützung. Ich halte es für untragbar, wenn mit Klassenkampfparolen und mit Polarisierung Politik gemacht wird. Das spaltet und löst kein einziges Problem der Menschen. Ich teile auch die Sorge, dass es immer weniger Politiker gibt, die Mut und Willen haben, für Inhalte, Fakten und Visionen zu werben. Wir leben in einer Zeit mit hohem Veränderungsdruck, gerade da braucht Politik Ehrlichkeit und Überzeugungskraft.

 

OÖNachrichten:  Mut, Ehrlichkeit und die anderen Eigenschaften, die Sie ansprechen – finden Sie die derzeit in der ÖVP?

Othmar Karas:  Die sind derzeit in keiner Partei ausreichend vorhanden. Es driften alle ab in die einfache Botschaft und in die Polarisierung. Aber das ist nicht die Antwort auf die Komplexität der Herausforderungen. Für die gibt es keine einfache und keine nationale Antwort, sondern sie brauchen Zusammenarbeit, Dialog und Aufklärung. Da geht es auch um das Selbstverständnis als Politiker, mit ein wenig Pathos formuliert: Es geht nicht darum, vor der nächsten Wahl zu bestehen, sondern vor der Geschichte.

 

OÖNachrichten:  Van der Bellen hat in Bregenz auch kritisiert, dass die ÖVP nun Politik für „normale“ Bürger propagiert. Können Sie sich mit dem neuen ÖVP-Modewort „normal“ identifizieren?

Othmar Karas:  Alles was ich zuerst gesagt habe, gilt auch hier: Für mich ist diese Diskussion nicht nachvollziehbar. Damit löst man kein einziges Problem, das auf dem Tisch liegt.

 

OÖNachrichten:  Können Sie die ÖVP noch als Ihre politische Heimat bezeichnen?

Othmar Karas:  Ich bin und bleibe ein überzeugter Christdemokrat. Aus meiner christdemokratischen Werteordnung mache ich Politik. Wer mich kennt, weiß, dass ich seit Jahrzehnten eine Linie verfolge, die auch in meiner eigenen Partei angeeckt ist. Vor allem auch, weil ich meine, dass Europa zu wenig als Teil der Lösung verstanden wird. Von dieser Linie bin und werde ich nicht abrücken.

 

OÖNachrichten:  Wie eng ist Ihr Verhältnis zur aktuellen ÖVP-Spitze?

Othmar Karas:  Das ist themenspezifisch unterschiedlich. Ich würde mir generell wünschen, auch in der ÖVP, dass wir einen intensiveren inhaltlichen Dialog führen. Wir müssen aufhören zu glauben, dass die Funktionäre einer Partei nur dann loyal sind, wenn die ganze Partei nur eine Meinung vertritt. Wir brauchen eine Politisierung der Politik und eine intensivere Debatte über die Rolle Österreichs in Europa, über die Rolle Europas in Österreich und über die Rolle Europas in der Welt. Aber leider werden wir ein bissl kleingeistig in der Beantwortung dieser komplexen globalen Themen.

 

OÖNachrichten:  Sehen Sie Österreich in der EU aktuell als integrative Kraft oder eher als ein Mitglied, das die zentrifugalen Kräfte befördert?

Othmar Karas:  Ich sehe leider in der gesamten EU eine Stärkung der Extreme, in allen Mitgliedsstaaten. Ich sehe zunehmend einen Mangel an Ehrlichkeit im Umgang mit der EU. Europa soll als Schuldiger herhalten. Aber keines der Themen, ob Teuerung, Energie, Migration, Klima etc., kann mit nationalen Antworten bewältigt werden. Was zu tun ist, liegt auf der Hand. Aber der politische Wille ist derzeit unterbelichtet gegenüber der Polarisierung und der Schuldzuweisung. Das ist nicht nur ein österreichisches Spezifikum. Wir stehen vor der größten Transformation seit 1945, mit einer Vielzahl an Krisen, die die Menschen teils auch überfordern. Daher rufe ich zu mehr Ernsthaftigkeit und Ehrlichkeit in der Politik auf.

 

OÖNachrichten:  Gibt es etwas, was Ihren Optimismus für die Entwicklung der EU stärkt?

Othmar Karas:  Ich sehe die zentrifugalen Kräfte, aber trotzdem bleibe ich Optimist. Warum? Nehmen Sie nur den Green Deal, mit dem die EU als erster Kontinent bis 2050 klimaneutral werden will. Dieses Ziel war die Basis für das größte Förderprogramm der EU, das es je gab. Der Green Deal ist nicht nur ein Klima-, sondern vor allem auch ein Wirtschaftsprogramm. Denn wenn die EU es nicht schafft, bei den grünen Technologien Weltmarktführer zu werden, sondern diese Position wieder an die USA oder China verliert, haben wir ein Standortproblem. Und wer hätte noch vor zwei Jahren geglaubt, dass die EU elf Sanktionspakete gegen Russland einstimmig beschließen würde? Was da geschehen ist, ist zutiefst europäisch, diesen Weg müssen wir mit hohem Tempo weitergehen. Versagt haben wir aber bei der Asyl- und Migrationspolitik, da haben wir nichts aus der Krise von 2015 gelernt. Zum Glück sind wir jetzt endlich in der Lage, über eine gemeinsame Asyl- und Migrationspolitik zu verhandeln.

 

OÖNachrichten:  Fehlen in Europas Politik nicht zusehends glühende Europäer?

Othmar Karas:  Es geht nicht um glühend oder nicht, sondern um Verantwortung und Vernunft. Wir sind leider bei der Zielsetzung schneller und erfolgreicher als bei der Umsetzung. Bei der Umsetzung kommt immer mehr Sand ins Getriebe, weil die Politik derzeit argumentationsfaul ist.

 

OÖNachrichten:  Der türkische Präsident Erdogan hat bei den Verhandlungen über einen Nato-Beitritt Schwedens vor zwei Wochen die Wiederaufnahme der EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei gefordert. Wie bewerten Sie diese Ansage?

Othmar Karas:  Das ist eine unglaublich emotionale Frage, auch in der Bevölkerung. Wir stehen vor einer völlig neuen geopolitischen Auseinandersetzung. Die frühere Konfliktlinie zwischen Nationen wird zunehmend eine Auseinandersetzung der Kontinente. Wir haben mit der Türkei viele gemeinsame Interessen und Probleme, über die müssen wir reden. Miteinander reden heißt aber nicht beitreten. Die Türkei hat sich in den vergangenen Jahren meilenweit von der EU wegentwickelt, rechte- und wertemäßig. Trotzdem wollen wir ein neues Asyl- und Migrationsabkommen, trotzdem ist die Türkei bei der Frage der Lieferketten an einem neuralgischen Punkt. Darüber müssen wir reden. Ich würde gerne über Pressefreiheit, Menschenrechte, Asyl und Migration mit der Türkei reden. Ich sehe das ganz pragmatisch. Die Türkei ist unser Nachbar. Man darf das nicht auf die Beitrittsfrage reduzieren.

 

OÖNachrichten:  Glauben Sie, dass die EU wirtschaftlich mit China und den USA noch Schritt halten kann?

Othmar Karas:  Ich würde uns aktuell nicht an die dritte Stelle reihen. Ich habe in den vergangenen Tagen in ganz Österreich sehr viele Betriebe besucht, die in ihren Bereichen Weltmarktführer sind. Bei der letzten EU-Wahl waren mehr Bürgerinnen und Bürger wahlberechtigt als Nordamerika Einwohner hat. Wir sollten uns nicht kleiner machen, als wir sind. Vor allem was unser Sozial- und Gesundheitssystem und auch unser demokratisches System betrifft, sind wir den anderen beiden klar überlegen. Wie das Match ausgeht, liegt ausschließlich an uns. Wir nutzen unser Potenzial zu wenig. Wenn wir nur die bestehenden Barrieren im Binnenmarkt auflösen, haben wir drei bis fünf Prozent mehr Wachstum. Wir haben uns zu lange auf billige Energie aus Russland verlassen und haben Produktionen nach China ausgelagert. Damit muss Schluss sein. Wir brauchen Handelsübereinkommen, wir müssen den Weltmarkt neu ordnen.

 

OÖNachrichten:  Freuen sie sich schon auf die EU-Wahl nächstes Jahr?

Othmar Karas:  Ich freue mich sehr. Wir stehen vor einer Richtungsentscheidung, mehr als sonst: Gewinnt die Suche nach gemeinsamen Lösungen oder gewinnt die Blockade und die nationale Schuldzuweisung?

 

OÖNachrichten:  Sie haben eingangs gesagt, sie bleiben immer Christdemokrat. Könnten Sie sich trotzdem vorstellen, bei der EU-Wahl mit einer eigenen Liste anzutreten? Gerüchte gibt es seit längerem.

Othmar Karas:  Als Christdemokrat weiß ich: Man kann die richtigen Antworten finden, und diese Antworten sind nicht parteipolitisch gebunden. Ich kenne diese Gerüchte auch, sie stammen nicht von mir. Was ich mache, entscheide ich für mich während meines Urlaubs am Attersee. Und ich werde das machen, wo ich das meiste bewirken kann. Das werde ich zeitgerecht mitteilen. Klar ist: Ich lasse mir die Entscheidung über meine Zukunft nicht von anderen bestimmen. Ich entscheide selbst.