Demokratie, Europa

„KURIER“: Karas über Polen-Urteil: „Die EU darf das nicht hinnehmen“

EU-Vizeparlamentspräsident Othmar Karas über Polens Fehdehandschuh an die EU, Sanktionen und Hoffnungen auf eine mögliche Wende. von Ingrid Steiner-Gashi

 

zum Artikel auf kurier.at

 

Wenn sich Polens Premier Mateusz Morawiecki heute im EU-Parlament in Straßburg der Debatte mit den EU-Abgeordneten stellt, wird es hitzig werden: Steht polnisches Recht über EU-Recht, wird da die Frage sein. Leiten wird die Debatte EU-Parlamentsvizepräsident Othmar Karas (ÖVP). Er erhofft sich vom konservativen polnischen Regierungschef eine „Erklärung, und im optimalen Fall auch einen Ausweg“ aus einer der größten Krisen, auf die die EU zusteuert.

KURIER: Hat Polen mit dem Urteil, dass sein Recht Vorrang gegenüber dem EU-Recht hat, der EU den Fehdehandschuh geworfen?

Othmar Karas: Aus meiner Sicht – ja. Denn das gemeinsame Recht bildet die Grundlage der Zusammenarbeit in der Union. Sie schafft Sicherheit für alle Bürgerinnen und Bürger. Ohne diese Grundlage können wir unsere Herausforderungen und Krisen nicht bewältigen. Jeder, der diesen Grundsatz infrage stellt, arbeitet gegen den Zusammenhalt in der EU.

Aber in der polnischen Bevölkerung gibt es dagegen auch Widerstand.

Das gibt mir Hoffnung: Laut jüngster Eurobarometer-Umfrage sind 64 Prozent der Polen der Ansicht, dass sich die Dinge in ihrem Land in die falsche Richtung bewegen. Das zeigt erneut: Die polnische Regierung arbeitet auch gegen die eigene Bevölkerung, die sich mehrheitlich, nämlich mit 88 Prozent, zur EU bekennt.

Warum kann die EU Polens Vorgehen nicht einfach so hinnehmen?

Sie darf das gar nicht hinnehmen. Wenn jeder tut, was er will, schafft er Ungleichheit und Ungerechtigkeit. Zum Schutz der europäischen Werte, des Rechts und der europäischen Idee kann die EU deren Verletzung und Ignorierung nicht zulassen. Es geht nicht um ein einfaches Vertragsverletzungsverfahren, sondern um die Weigerung, europäisches Recht als Grundlage anzuerkennen.

Ist das die größte Krise, die die EU je erlebt hat? Machen Sie sich Sorgen?

Ja, große Sorgen, weil diese Krise an den Fundamenten der EU rüttelt.

Wie erklären Sie sich Polens Gesinnungswandel? Warschau hat ja beim Beitritt die EU-Verträge unterschrieben. Und Premier Morawiecki hat 1999 ein Buch verfasst, wonach EU-Recht über polnischem Recht steht.

Dieses Problem erleben wir leider derzeit in mehreren Mitgliedsstaaten. Immer mehr Regierungen nehmen Verletzungen des europäischen Rechts aus innenpolitischem und macht- und parteitaktischem Kalkül in Kauf, um im eigenen Land zu spalten und zu emotionalisieren. Das ist eine inakzeptable Überschreitung einer bisher von allen geachteten roten Linie. Die Verträge der EU sind der Kitt, der die Gemeinschaft zusammenhält. Und der Europäische Gerichtshof ist die letzte Instanz, an seine Urteile müssen sich alle halten. Hier gibt es kein Entweder-oder, sondern nur Respekt vor dem gemeinsamen Recht.

Ist es eine Lösung, Polen den Geldhahn zuzudrehen?

Das ist eine Facette. Es ist völlig unmöglich, dass Gelder aus dem EU-Wiederaufbaufonds in Länder fließen, wo Mittel nicht im Sinne des europäischen Rechts ausgegeben werden. Die Kommission prüft derzeit penibelst mögliche Sanktionen. Sie muss ganz sicher gehen, dass jede Form von Sanktion rechtlich durchsetzbar ist. Bis 2. November hat die EU-Kommission Zeit, den neuen Rechtsstaatsmechanismus in Kraft zu setzen. Sonst wird das EU-Parlament die Kommission wegen Untätigkeit verklagen. Diejenigen, die gegen die EU arbeiten, dürfen in ihrer Destabilisierungspolitik nicht die Oberhand bekommen.

Wird Polen dann als Retourkutsche alle gemeinsamen Entscheidungen in der EU blockieren? Also auf volle Konfrontation gehen?

Es gibt nichts Ärgeres als zu sagen, wir halten uns nicht an das gemeinsame Recht. Das Entscheidende ist: Die EU darf sich nicht erpressen lassen. Sie darf nicht zulassen, dass eine Regierung gegen die Mehrheit der Bevölkerung und gegen die EU selbst agiert. Die Europäische Union ist hier auch ein Schutzschild gegen die Willkür von Regierungen. Es geht hier nicht um einen Rechtsstreit, sondern es ist eine politische Auseinandersetzung in Polen und um die Zukunft der EU.