Gastkommentar: Wir müssen reden
Ein Arbeitsparlament wie das der EU passt nicht zu parteipolitischem Hick-Hack. Es ist deshalb aber nicht machtlos.
Der Befund ist eindeutig und nicht zu bestreiten: Die Österreicher fühlen sich über die Arbeit des EU-Parlaments (EP) nicht gut informiert. Das belegen jüngste Umfragen. Aber stimmt auch das apodiktische Urteil: „Ein Parlament entmachtet sich selbst“ in der „Presse“ vom 23. Mai: Dafür mag es berechtigte Argumente auch in der jüngsten Vergangenheit geben.
Für die Rolle, die das EP in der Coronakrise spielt, bestreite ich das entschieden. Ursula von der Leyen hat diese Woche im Europaparlament einen mutigen Plan zur Bewältigung der Folgen der Pandemie vorgelegt. Das EP hat bereits in den Wochen davor mehrere gemeinsame Positionen mit großer Mehrheit beschlossen. Die EU-Kommission hat im Kern vieles übernommen. Das ist gut so. Wir werden als Parlamentarier diesen Prozess auch begleiten, die Vergabe der Mittel laufend kontrollieren und evaluieren.
Es geht mir nicht um einen Vaterschaftsstreit. Aber als begeisterter Parlamentarier und leidenschaftlicher Demokrat leide ich darunter, wie wenig die Bürgerinnen und Bürger darüber Bescheid wissen. Der Widerspruch zwischen daheim gefühlter Wirklichkeit und dem täglichen Geschehen am Arbeitsplatz Europa ist frustrierend. Das hat viele Gründe: Das EP ist ein Arbeits-, kein Abstimmungsparlament. Die Debatte ist primär inhaltlich, nicht parteitaktisch getrieben. Das passt nicht in das bekannte parteipolitische Hick-Hack-Schema. In Brüssel werden rund 90 Prozent aller Regierungsvorlagen abgeändert. Im Nationalrat werden rund 90 Prozent der Regierungsvorlagen so beschlossen. n Österreich gibt es mit dem Nationalrat nur eine gesetzgebende Kammer, der Bundesrat hat nur ein aufschiebendes Vetorecht. In Europa gibt es zwei gleichberechtigte Gesetzgeber: Das EP und den Rat der Mitgliedstaaten.
Das Recovery-Programm „Next Generation EU“ kann nur dann umgesetzt werden, wenn auch der EU-Rat geschlossen zustimmt. Im Kreis der 27 Staats- und Regierungschefs gibt es aber noch keine Einstimmigkeit. Deshalb sind diese auch öfter in den Medien. Uneinigkeit, Schuldzuweisungen und Blockaden sind interessanter als parteiübergreifender Konsens im EP.
Unser Problem: Europa ist Kompromiss und nicht Konflikt. Ein Journalist hat mir auf die Frage gesagt, was ich besser machen kann, um das zu ändern: Gar nichts, Kompromisse sind nicht sexy, die muss man erklären.
Kompromisse sind nicht sexy
Ich kann und will das nicht akzeptieren: Deshalb habe ich als Vizepräsident die Aufgabe übernommen, die Kommunikationspolitik zu verbessern. Wir sind das transparenteste Parlament Europas: Jede Sitzung ist öffentlich, alle namentlichen Abstimmungen online überprüfbar. Niemand von uns kann sich hinter einer Partei verstecken.
Mein Team und ich haben uns zur obersten Priorität gesetzt, erfolgreich zu arbeiten und offensiv mit allen modernen Mitteln zu informieren: Mit einer Homepage, einem Newsletter, Videobotschaften usw. Wir nehmen, wenn irgendwie möglich, jede Einladung zu Diskussionen an. Die europäische Demokratie braucht einen neuen Schub. Die Kritiker haben recht, die sagen: Die 751 Europaparlamentarier teilen sich in jene, die leidenschaftlich für ein geeintes Europa kämpfen und die, die nur nationalstaatliche Interessen im Blick haben. Leider nimmt dieses Denken in Schwarz-Weiß, Gut-Böse, Ich-Du wieder mehr zu. Für mich geht es daher mehr denn je darum, das „Wir“ in den Mittelpunkt zu stellen. Denn Österreichs Zukunft ist von der erfolgreichen Zukunft Europas abhängig. Darüber müssen wir reden. Ich bin für jede Idee dankbar, wie wir Europa gemeinsam besser machen können: www.othmar-karas.at twitter: @othmar_karas; Facebook: @Othmar Karas
Othmar Karas (*1957) ist Vizepräsident des Europäischen Parlaments und seit 1999 Europa-Abgeordneter der ÖVP.