Gastkommentar: Orbán gefährdet die Weiterentwicklung Europas massiv
Stellen wir uns vor, es würde in großen europäischen Tageszeitungen ein Inserat erscheinen, unterschrieben von einem Regierungschef im Namen seines Landes. Dessen zentrale Botschaft: „Brüssel errichtet einen Superstaat, zu dem niemand die Ermächtigung gegeben hat. Wir sagen Nein zu dem europäischen Imperium.“ Es gäbe EU-weit einen Aufschrei und eine heftige Debatte darüber: Will der Absender eine neue Brexit-Kampagne anzünden? Will er das europäische Einigungswerk zerstören, anstatt das Miteinander zu stärken?
Bei Viktor Orbán scheint man sich offenbar an Provokationen wie diese schon gewöhnt zu haben. Der ungarische Regierungschef hat in mehreren Medien Europas eine ganzseitige Anzeige geschaltet, in dem dieses obige Zitat wortwörtlich so stand. Es ist nur eine von vielen Provokationen, Falschdarstellungen und bewussten Versuchen zu spalten.
In Österreich machte diese Aussage in diesem Inserat erst Schlagzeilen, als Orbán es jüngst auch in der „Presse“ schalten ließ.
Der Zeitpunkt seiner Kampagne ist nicht zufällig gewählt. Bei Verstößen gegen die Rechtsstaatlichkeit haben sich Staaten wie Polen und Ungarn bisher gegenseitig gedeckt. Alle entsprechenden EU-Verfahren haben sich daher aufgrund des Einstimmigkeitsprinzips als stumpfes Schwert erwiesen. Das EU-Parlament hat nun aber durchgesetzt, dass Verstöße gegen die Rechtsstaatlichkeit mit qualifizierter Mehrheit künftig sanktioniert werden können.
Mein Gastkommentar auf DiePresse.com
Europa muss die Zähne zeigen
Europa präsentiert sich aber nicht als „imperialistischer Superstaat“, sondern als Gemeinschaft, die bei der Wahrung und Durchsetzung ihrer Werte dem Rechtsstaat und den gemeinsamen Grundrechten verpflichtet bleibt. Der neue Rechtsstaatsmechanismus hat nach genauen Regeln abzulaufen, die gerade von der EU-Kommission erarbeitet werden. Das ist wichtiger denn je, auch wenn das da wie dort Unwillen erweckt. Die einen finden, der Mechanismus gehe zu weit und sei eine unzulässige Einmischung in „nationale Souveränität“; den anderen geht er zu langsam. Sie meinen, Europa agiere gegenüber jenen, die die gemeinsame Zukunft gefährden, zu zögerlich und müsse schneller und schärfer die Zähne zeigen.
Ungarn ist nicht Viktor Orbán!
Ich habe mich innerhalb der Europäischen Volkspartei sehr lang bemüht, Brücken zu bauen. Wenn einer auf seiner Seite weiter an der Brücke baut, der andere aber diese Brücke Zug um Zug zerstört, dann wird klar: Das Trennende ist größer als das Gemeinsame. Dieser Punkt war für mich erreicht, als der Fidesz-Delegationsleiter im Europaparlament Aussagen von EVP-Fraktionschef Manfred Weber in die Nähe der Gestapo und des kommunistischen Geheimdienstes rückte. Ich bin dafür nicht überall auf Verständnis gestoßen.
Die nun in Ungarn gelebte offene sexuelle Diskriminierung und die skandalöse Inseratenkampagne sind nur die jüngsten Beispiele, die bestätigen: Orbán geht mit seiner Absage an fundamentale europäische Werte völlig andere Wege. Er gefährdet nachhaltig die gesamte Weiterentwicklung Europas. Die EU muss ihn jetzt auf allen Ebenen klar in die Schranken weisen. Niemand hätte Verständnis dafür, dass Orbán von den Milliarden aus dem EU-Aufbaufonds profitieren soll und gleichzeitig die gemeinsamen Werte mit Füßen tritt.
Eines steht für mich aber auch mehr denn je fest: Ungarn ist nicht Orbán! Ungarn muss und soll in der EU bleiben. Viktor Orbán aber steht einem zukunftsfähigen, demokratischen und sozialeren Europa immer massiver im Weg.
Dr. Othmar Karas, (* 1957 in Ybbs) ist seit 1999 Abgeordneter der ÖVP zum Europäischen Parlament und seit Juli 2019
Vizepräsident dieses Parlaments.