Europa

„FURCHE“: Karas: „Die Mitte hat versagt“

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Der scheidende Erste Vizepräsident des Europäischen Parlaments, Othmar Karas, über den rechten Höhenflug, die Migrationsfrage, den Renaturierungs-Zwist und „mangelnde Ehrlichkeit“ seiner Partei.

 

DIE FURCHE: Rechte Parteien waren die großen Gewinner der EU-Wahlen. In vielen Staaten – darunter Frankreich – scheint die extreme Rechte sogar zur neuen Volkspartei geworden zu sein. Wie beurteilen Sie die aktuelle Situation? 

Othmar Karas: Dazu muss man definieren, was man unter einer Volkspartei versteht. Nach meinem Politikverständnis ist eine Volkspartei eine Integrationspartei, die den sozialen Zusammenhalt der Gesellschaft zum Ziel hat. In diesem Sinne können Extreme nie Volksparteien werden, sie sind vielmehr polarisierende Spaltungsparteien, weil sie nicht an Lösungen für die Sorgen und Probleme der Menschen arbeiten, sondern sie nur im eigenen Interesse benutzen. Insofern sind sie leider immer auch ein Produkt des Versagens der Mitte.

Auch Frau Le Pen, die ich aus dem Europaparlament kenne, ist ein Produkt des gescheiterten Macronismus. Hier fällt mir ein Spruch ein: Wer anderen eine Grube gräbt, fällt selbst hinein. Nur hat Herr Macron diese Grube der Europäischen Union als Ganzes gegraben. Und auch wenn der Rechtsdurchmarsch nicht in ganz Europa geglückt ist, so machen mir die Entwicklungen in Frankreich, Deutschland, Österreich, Holland und der Slowakei große Sorge. Es liegt ausschließlich an der Mitte, sich nicht weiter mit Einzelinteressen zu beschäftigen und nach rechts oder links zu blinken, sondern wieder staatspolitisch das gemeinsame Ziel in den Blick zu nehmen – und den Extremen damit den Teppich unter den Füßen wegzuziehen. Da haben wir bisher in der Mitte versagt. Denn ein Großteil der Menschen will ja nicht mit den Extremen ideologisch im Bett liegen, sondern mit ihnen „gegen das System“ protestieren.

 

DIE FURCHE: Aber Befragungen zeigen, dass es auch hinsichtlich der Ideologie dieser Parteien immer weniger Berührungsängste gibt, dass etwa viele längst offen ein „Festung Europa“ oder „Remigration“ wollen, auch wenn dies Europäischem Recht widerspricht.

Karas: Aber schauen Sie sich die Wahlergebnisse in Salzburg und Innsbruck an: Da hatte der Protest andere Namen – und die FPÖ hat nicht zugelegt. Daher bleibe ich dabei: Ein großer Teil des Zuwachses der Rechten ist der Protest gegenüber dem System und der mangelnden Lösungskompetenz der Mitte. Umso mehr muss man jetzt um Lösungen ringen und grundsätzliche gesellschaftspolitische Auseinandersetzungen führen. Das haben wir in den letzten Jahren nicht getan.

 

DIE FURCHE: Was hätten die Mitte-Parteien im Bereich Flucht und Migration konkret tun sollen?

Karas: Sie hätten nicht neun Jahre eine gemeinsame europäische Antwort auf die Migrationskrise blockieren sollen. 2015 wurden uns die Augen geöffnet: Es war klar, dass wir eine gemeinsame europäische Asyl- und Migrationspolitik benötigen. Es gab bereits unter Jean-Claude Juncker erste Vorschläge der Kommission, weil man gesehen hat, wie die Rechtsnationalisten und -populisten stärker geworden sind. Doch immer mehr Mitgliedstaaten haben diese Frage zur innenpolitischen Profilierung und Schuldzuweisung genutzt. Jetzt haben wir mit dem neuen Asyl- und Migrationspakt endlich gezeigt, dass es einen gemeinsamen politischen Willen gibt. Aber dieser Pakt wurde erst beschlossen, noch nicht umgesetzt. Daher spürt man seine Wirkung noch nicht. Klar muss sein, dass es für Asyl und Migration unterschiedliche rechtliche Grundlagen gibt. Wir brauchen gemeinsame Asylverfahren mit legalen Fluchtrouten und einem innereuropäischen Solidaritätsmechanismus. Und zugleich brauchen wir gezielte Arbeitsmigration, um unsere personellen Engpässe lösen zu können.

 

DIE FURCHE: Seit 1. Juli gibt freilich der zentrale Quertreiber dieser „innereuropäischen Solidarität“, Viktor Orbán, den Takt vor: Ungarn hat die Ratspräsidentschaft übernommen. Zudem hat Orbán am vergangenen Wochenende  gemeinsam mit Herbert Kickl und dem ehemaligen tschechischen Premier Andrej Babiš eine neue rechte Allianz der „Patrioten Europas“ vorgestellt. Ist nicht eher eine Dauerblockade bzw. einer Konzentration der rechten Kräfte zu erwarten?

Karas: Was die Rolle des Vorsitzes in der rotierenden, sechsmonatigen Ratspräsidentschaft betrifft, so sind hier die Zuständigkeiten mit dem Vertrag von Lissabon stark abgespeckt worden. Nicht zuletzt der Druck der anderen werden es ihm schwermachen, ausschließlich parteitaktische und nationale Interessen zu vertreten. Außerdem gab es zwar schon bisher Blockaden, dennoch haben wir in der vergangenen Monaten einstimmig 1,4 Milliarden Euro an Militärhilfe für die Ukraine freigegeben. Und was die zersplitterten Rechtsparteien betrifft: Wer sich noch dieser neuen „Allianz“ anschließt, kann man heute nicht absehen. Man darf das auch nicht unterschätzen. Aber wenn Sie sich die Positionen von Frau Meloni, Frau Le Pen und der AfD ansehen, dann eint sie vorerst nur eines: Sie wollen diese Europäische Union und ihren Einigungsprozess nicht. Das ist spaltend und zerstörerisch, hat aber keine Mehrheit in der Bevölkerung und im Europäischen Parlament.

 

DIE FURCHE: Orbáns Wahlspruch lautet perfiderweise „Make Europe great again“ – angelehnt an Donald Trump, dessen Wiederkehr zuletzt deutlich wahrscheinlicher geworden ist…

Karas: Mich wundert das nicht, weil Steve Bannon, der einst Trumps Chefstratege war (und nun gerade eine viermonatige Haftstrafe angetreten, Anm.) nach seinem Ausscheiden nach Europa gekommen ist und Mastermind dieser neuen Rechtsallianz wurde. Auch hat Kickl vielfach Orbán als Vorbild genannt. Das ist also alles nicht neu. Aber natürlich muss man angesichts dieser Zusammenarbeit von Trump über die EU bis Putin wachsam sein. All diese Kräfte wollen etwas ganz anderes als wir, nämlich ein autoritäres System: Sie wollen Brüssel übernehmen, die liberale Demokratie und unsere Werte zerstören, das Parlament abschaffen, den Rechtsstaat ignorieren und den Nationalismus stärken. 

 

DIE FURCHE: Die Chancen auf Trumps Wiederkehr sind auch gestiegen, weil Joe Biden sich bei der ersten öffentlichen TV-Debatte demontiert hat (vgl. Seite 9). Was bedeutet das für Europa?

Karas: Wir müssen endlich munter werden! Es sind uns ja – hoffentlich – die Augen geöffnet worden. Zum einen macht uns unsere Gasabhängigkeit von Russland erpressbar, treibt die Inflation an und gefährdet unsere Wettbewerbsfähigkeit. Zweitens haben wir unsere Sicherheit bislang de facto an Amerika ausgegliedert und die Produktion von medizinischen Gütern nach China und Asien ausgelagert. Auch die Technologie-Führerschaft im Bereich der Telekommunikation und Digitalisierung haben wir verloren. Warum? Weil wir dem Gesellschafts- und Systemunterschied keinen Preis gegeben haben und nicht nach der Qualität gegangen sind. Unser demokratisches System darf es nicht zum Nulltarif geben. Wir müssen unabhängiger werden.

 

DIE FURCHE: Gerade wegen abnehmender Wettbewerbsfähigkeit ist der „Green Deal“ in die Kritik geraten – insbesondere bei „Ihren“ Konservativen. Hat sich Europe mit diesem ambitionierten Pakt Ziel übernommen?

Karas: Nein! Denn der Green Deal ist ja ein Zielkatalog mit zwei großen Ansagen: Die Europäische Union will darin nicht nur bis 2050 der erste klimaneutrale Kontinent der Welt sein – wobei Österreich und Deutschland gesagt hat, wir sind besser und schaffen das schon bis 2035 oder 2040 –, sondern der Green Deal ist auch ein Wirtschafts-, Sozial- und Investitionsprogramm. Ohne diesen Klimakatalog, ohne diese Investitionen in die grüne, digitale und soziale Transformation werden wir an Wettbewerbsfähigkeit verlieren. In Europa sind wir immer sehr schnell bei der Formulierung der Ziele, aber wenn Brösel ins Getriebe kommen, mangelt es an der Umsetzung. Ein Beispiel ist das Vorhaben, ab 2035 im PKW-Bereich keine Neuwagen mehr mit Emissionsausstoß zuzulassen.

 

DIE FURCHE: Öffentlich diskutiert wurde das unter „Verbrenner-Aus“.

Karas: Das war aber irreführend und schürt eher Vorurteile, weil die Kommission von vornherein zugleich eine Technologieoffensive bei Wasserstoff und bei E-Fuels sowie für Batterien vorgeschlagen hat. Samt Evaluierungsschiene. Darauf hatten sich der Europäische Rat und das Parlament im Oktober letzten Jahres geeinigt.

 

DIE FURCHE: Dennoch sind Deutschlands Finanzminister Christian Lindner (FDP) und dann auch Österreichs Bundeskanzler Karl Nehammer (ÖVP) ausgeschert, Stichwort „Autoland Österreich“. Wie sehen Sie diese Aktionen?

Karas: Statt die Zustimmung zum Kompromiss zu begründen, verabschieden sich beide von ihrer Mitverantwortung und stärken das Narrativ der EU-Gegner. An der Einigung vom Oktober 2023 hat dies keinen Beistrich verändert. Diese Ehrlichkeit geht mir generell in der Politik zunehmend ab. Europa ist immer ein Kompromiss. Wir sind ja bei jeder Entscheidung dabei. Statt Klarheit herrscht nun aber Verunsicherung.

 

DIE FURCHE: Das führt uns zum jüngsten Zwist, dem Streit um die EU-Renaturierung. Klimaministerin Leonore Gewessler (Grüne) stimmte entgegen der formal gültigen Ländervereinbarung und der Absprache mit dem Koalitionspartner auf Basis von Privatgutachten zu, die ÖVP warf ihr Rechts- und Verfassungsbruch sowie Amtsmissbrauch vor. Wie sehen sie diese Kontroverse?

Karas: Die Renaturierung ist ein Teil des Green Deals. Ich selbst habe den ursprünglichen Kommissionsvorschlag abgelehnt, weil ich ihn für überbordend und bürokratisch gehalten habe – und viele Auswirkungen nicht klar waren. Daher haben wir verhandelt. Am Ende gab es eine Einigung der Mitgliedsstaaten und das Parlament hat dieser Einigung zugestimmt, weil viele Bedenken – auch österreichische – berücksichtigt worden waren und zentrale Punkte wie Lebensmittel- und Versorgungssicherheit garantiert waren. Auch wurde geklärt, dass die Mitgliedsstaaten der Kommission selbst vorschlagen können, wie die Umsetzung in ihrem Land aussehen soll. All das hätte man als Erfolg verkaufen können – wenn man bereit gewesen wäre, den Prozess zu erklären. Es ist einfach kein „Enteignungsgesetz“, sondern die notwendige Antwort auf unser Versprechen.

 

DIE FURCHE: Ist also die Kritik der ÖVP deplatziert – oder hat Gewessler doch falsch agiert? 

Karas: Wie gesagt: Inhaltlich habe ich den Kompromiss für zustimmungsreif gehalten und bin hier mit der Klimaministerin einer Meinung. Ob sie rechtlich korrekt agiert hat, wird geprüft.

 

DIE FURCHE: Kommen wir zu dem, was trotz allem noch besser laufen müsste in Europa. Sie selbst haben bei Ihrer Verabschiedung im Österreichischen Parlament gemeint, dass die EU derzeit nur „zu 70 Prozent funktioniert“. Was fehlt?

Karas: Sehr viel. Wir haben in den vergangenen Jahren gesehen, dass wir an die Grenzen unserer Handlungsfähigkeit gestoßen sind: bei der Migrationsfrage, in der Pandemie, bei der Frage der Sicherheit und Verteidigung, bei Klima und Energie. Hier müssen wir unsere Effizienz und Unabhängigkeit stärken. Zweitens haben wir gesehen, dass es im Binnenmarkt noch sehr viele nationale Barrieren gibt. Stichwort Infrastruktur, Energie- und Verkehrsnetze oder Telekommunikation. Allein durch eine Vollendung des Binnenmarktes bei Waren und Dienstleistungen sind Effizienzgewinne von bis zu 829 Milliarden Euro pro Jahr möglich. Und wenn wir einen europäischen Kapitalmarkt schaffen würden, stünden uns ein Potenzial

von bis zu 470 Milliarden Euro jährlich zur Verfügung. Daher müssen wir die Europäische Union inhaltlich erweitern und vertiefen. Wir dürfen nicht mit angezogener Handbremse fahren, sondern müssen eine Aufbruchstimmung erzeugen. Unser Binnenmarkt hat 450 Millionen Kunden, der US-Markt 360 Millionen. Und dann gibt es noch immer Leute, die meinen, der amerikanische Markt sei besser. Wenn das stimmt, liegt es aber an uns selbst.

 

DIE FURCHE: Und inwiefern „funktioniert“ Europas Spitzenpersonal? Ursula von der Leyen bewirbt sich in zwei Wochen in Parlament in Straßburg um eine zweite Amtszeit als Kommissionspräsidentin, EU-Außenbeauftragte soll die liberale Ministerpräsidentin von Estland, Kaja Kallas, werden. Die Mitgliedsstaaten haben sich auf den portugiesischen Sozialdemokraten Antonio Costa als Ratspräsident geeinigt – und die Maltesische Christdemokratin Roberta Metsola soll weitere zweieinhalb Jahre EU-Parlamentspräsidentin werden. Wieviele Prozent geben Sie diesem Team?

Karas: Es ist das Beste, was man derzeit bekommen kann. Und ich glaube auch, dass es ein gutes Paket ist. Insofern erwarte ich mir, dass die Fraktionen der Mitte Ursula von der Leyen am 18. Juli die notwendige Mehrheit geben werden – und dass sie dann ein engagiertes und mutiges Programm auf den Tisch legt. Und dann beginnen die Hearings mit ihren Kandidatinnen und Kandidaten für die Kommission.

 

DIE FURCHE: Wen Österreich als Kommissar oder Kommissarin vorschlägt, ist noch offen. Eine realistische Option ist Verfassungsministerin Karoline Edtstadler. Wobei sie zuletzt durch ihre Warnung vor einem „Diktat aus Brüssel“ im Rahmen des Renaturierungs-Streits für Diskussionen sorgte. Fänden Sie sie geeignet?

Karas: Ich war von dieser Aussage zugegeben irritiert, weil in der EU ja – wie schon erklärt – keine Entscheidung fällt, bei der man nicht dabei ist. Es geht nie um die Frage „Brüssel oder Wien“, es geht immer nur um die Frage: „Macht jeder, was er will, oder machen wir es gemeinsam?“ Mit derartigen Aussagen stärkt man nur die Vorurteile und die Terminologie der FPÖ. Das entspricht nicht meiner Realität.

 

DIE FURCHE: Sie selbst sind von Neos, Grünen und SPÖ als möglicher Kommissar genannt worden – und haben zuletzt in der „Pressestunde“ auch gemeint, Sie stünden zur Verfügung.

Karas: Diese Nennung freut mich tatsächlich, weil es eine Bestätigung meiner überparteilichen Arbeit und meiner Tätigkeit im Europaparlament ist. Aber die Entscheidung liegt bei der Bundesregierung und danach beim Parlament.