Europa, Österreich

Europa braucht Ehrlichkeit in den Krisen – Gastkommentar „Die FURCHE“

2022-07-16_Furche-2

Dieser Tage wünschen viele einander „einen schönen Sommer!“. Ein paar unbeschwerte Wochen hätten sich die Österreicherinnen und Österreicher redlich verdient. Stattdessen hagelt es weiter bedrückende Meldungen. Nicht wenige haben für sich entschieden, den inneren Rollbalken herunterzulassen und jede Form von Nachrichten präventiv einfach nicht mehr zu konsumieren. Das ist subjektiv verständlich. Aber die Schlüsselfrage bleibt: Was können wir tun, damit es für uns in den kommenden Monaten und Jahren kein wirklich böses Erwachen gibt?

 

Trotz der vielbeschworenen Politikverdrossenheit erlebe ich allerorten eine Politisierung, ein Comeback des Wunsches, sich an der Willensbildung in der Gesellschaft zu beteiligen. Zum Teil sehr vehement und ungeduldig, alles in allem aber von verantwortungsvoller Sorge und Neugierde getragen. Sehr oft begegne ich der drängenden Frage: Warum hat „die Politik“ nicht rechtzeitig vorgesorgt, ja – manche sagen es auch geradeheraus – „versagt“? Etwa in der Frage der Energie-Abhängigkeit von Russland und bei der Einschätzung der politischen Gefährlichkeit von Wladimir Putin.

 

Zeitgleich erleben wir in Österreich einen bedrohlichen Vertrauensverlust in die politischen Parteien und handelnden Personen. Dieser Verlust wird wohl nur durch eine massive Transparenzoffensive, einen neuen Stil des Miteinanders und vor allem Ehrlichkeit in den politischen Debatten zu reparieren sein.

 

Falsche Einschätzungen und Feigheit

Es steht uns deshalb allen in der Politik gut an zuzugeben, dass wir manches nicht zeitgerecht im Blick hatten, auch falsch eingeschätzt haben oder zu feig waren. In einer aufrichtigen Debatte gibt es wohl nur wenige, die von sich zu Recht behaupten können, sie hätten das alles so kommen sehen. Ich habe es zum Beispiel schlicht nicht mehr für möglich gehalten, dass wir noch mal einen solchen barbarischen Angriffskrieg auf europäischem Boden erleben werden – und die friedliche Neuordnung Europas nach dem Fall des Eisernen Vorhangs mit militärischen Mitteln bekämpft wird.

 

Was jetzt aber am meisten zählt, ist der gemeinsame Blick nach vorn und die ehrliche Anstrengung, diese vielfältigen Krisen so gut wie irgend möglich zu bewältigen. Dafür gibt es auf europäischer Ebene viel mehr mutmachende Initiativen und Ideen als breit bekannt ist. Mit dem Programm „Next Generation EU“ hat die EU ihr laufendes Budget auf 2000 Milliarden Euro aufgestockt. Dieses macht nun EU-weit zukunftsweisende Investitionen in einem historisch einmaligen Umfang möglich. Damit soll das wichtigste Ziel für die kommenden Jahre mit Leben erfüllt werden: Europa wird grüner, digitaler und sozialer.

 

Von Robert Schuman, einem der Gründerväter der EU, stammt der visionäre Satz: „Europa lässt sich nicht mit einem Schlag herstellen und auch nicht durch eine einfache Zusammenfassung. Es wird durch konkrete Tatsachen entstehen, die eine Solidarität der Tat schaffen“. Das trifft punktgenau die bisherige Geschichte der Weiterentwicklung der EU. Die aktuellen Ereignisse, Bedrohungen und Herausforderungen werden auch die Blockaden, die es noch gibt, zunehmend auflösen (müssen). Wie wir die EU noch schneller und besser handlungsfähiger machen, stand so auch im Mittelpunkt der Konferenz zur Zukunft Europas.

 

In Österreich hat das von mir gegründete überparteiliche „BürgerInnen Forum Europa“ lösungsorientiert an konkreten Forderungen gearbeitet, auf europäischer Ebene trafen Bürger(innen) und Abgeordnete regelmäßig zusammen und formulierten ebenfalls zukunftsweisende Handlungsempfehlungen. Ein zentrales Thema war jenes, das uns in Zeiten vielfältiger Krisen besonders behindert: Das Prinzip der Einstimmigkeit – nicht nur in der Außen- und Sicherheitspolitik oder Steuerpolitik – ist weder demokratisch noch hilfreich. Es gibt jedem EU-Mitglied die Möglichkeit, Entscheidungen mit einem Veto zu blockieren und damit den Willen der Mehrheit zunichtezumachen.

 

Ich bin schon lange für die Aufhebung des Prinzips der Einstimmigkeit, nun ist sie auch eine wesentliche Forderung der Bürger(innen). Das Aus für den Zwang zur Einstimmigkeit in wichtigen Fragen eröffnet für uns alle die Chance, schneller und besser zu Entscheidungen zu kommen.

 

 

Kein Veto mehr für Rechtsstaats-„Sünder“

Beim Rechtsstaatsmechanismus ist es uns bereits gelungen, dass sich Rechtsstaats-„Sünder“ nicht mehr mit einem Veto gegenseitig decken können. Jetzt entscheiden die EU-Mitglieder mit qualifizierter Mehrheit über die Verhängung von finanziellen Sanktionen für jene, die gegen das Prinzip der Rechtsstaatlichkeit verstoßen – siehe Polen und Ungarn. Entscheidungen mit qualifizierter Mehrheit bedeuten keinen Verlust an demokratischer Legitimation.

 

Im Gegenteil: Es macht demokratische Entscheidungen statt Blockade und Stillstand in wichtigen Fragen erst möglich. Damit wird niemand entmachtet, sondern die Gemeinschaft und auch die Bürger(innen)kammer Europas gestärkt und zu einer noch schlagkräftigeren Politik in der EU ermächtigt. Der Weg bis dahin erscheint noch steinig. Aber in meinen mehr als zwei Jahrzehnten in der EU-Politik hat noch jede Krise die Europäische Union dazu angespornt, sich weiterzuentwickeln – und nicht daran zu scheitern.