Österreich

Staatspolitische Verantwortung über Parteitaktik stellen

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Gastkommentar in der Tageszeitung „Der Standard“

Der Kompromiss und die Suche nach der besten Lösung sind das Wesen der Demokratie – diese Grundlage fehlt uns derzeit in Österreich.

Am 12. Oktober habe ich in meiner persönlichen Erklärung gesagt: „Staatspolitische Verantwortung muss in Österreich wieder über der Parteitaktik stehen.“ Der Satz mag in den vielfältigen Interpretationen meiner Worte untergegangen sein – sollte er aber nicht.

Die Leitartikel um den Jahreswechsel sind sich einig: Es droht ein FPÖ-Kanzler Herbert Kickl, das Superwahljahr wird zur Schlammschlacht, Inhalte interessieren niemanden und eigentlich ist es doch viel interessanter, wer gerade gegen wen ist. Aber warum eigentlich? Warum eigentlich schaffen wir in Österreich keinen inhaltlichen Dialog über das, was notwendig ist? Das mag pathetisch klingen, aber wäre in diesen Zeiten so richtig – und ein guter Vorsatz für 2024.

Es ist nicht das erste Mal, dass ich an alle appelliere, den inhaltlichen Konsens und die Suche nach Lösungen in den Mittelpunkt zu stellen. Die Dringlichkeit und die Sehnsucht der Bürgerinnen und Bürger steigen aber. Werfen Sie einen Blick auf Gemeinderatswahlen: Es gewinnen Personen und es gewinnen Anliegen. Ich bin der festen Überzeugung, dass nach Jahren der Unruhe, der Turbulenzen und des Misstrauens, die Zeit für eine Politik der besten Inhalte, des Kompromisses und der Zusammenarbeit gekommen ist. Das mag fad klingen, ist aber genau das, was unser Österreich gerade jetzt braucht.

 

Polity, Politics, Policy

Ein politikwissenschaftlicher Einschub sei mir hierzu erlaubt: Im englischen unterscheidet man korrekterweise in polity (Strukturen), politics (Prozesse) und policy (Inhalte). Vielleicht schadet uns allein schon, dass wir diese Differenzierung nie abbilden oder leben. Vielleicht erklärt das auch, warum einige Parteipolitik und Politik gleichsetzen.

Das Superwahljahr startet mit den Wahlen zum Europäischen Parlament und es wird nicht überraschen, dass ich hierauf ein besonderes Augenmerk lege. Nach vier erfolgreichen EU-Wahlkämpfen weiß ich nur zu gut, dass die wirklich europapolitischen Themen selten eine Rolle spielen. Oft geht es dann eher um Gurken und Pommes – aber das ist Stoff für einen weiteren Kommentar. Begrüßenswert ist es daher, wenn jetzt verhältnismäßig früh (und immer noch viel zu spät) wieder darüber geredet wird, dass unsere EU-Mitgliedschaft eigentlich eh ganz gut ist. Beängstigend, dass das leider aktuell notwendiger denn je ist und vielleicht wäre diese Message auch einfacher zu transportieren, wenn man davor nicht jahrelang „Brüssel“ für jedes Problem verantwortlich gemacht hätte.

Ich möchte aber nicht den Eindruck erwecken, dass dies die Verantwortung einer Partei oder nur der Regierung ist – beinahe alle Parteien vernachlässigen eine positive Weiterentwicklung der EU. Einige Parteien suchen noch ihre Kandidatinnen und Kandidaten für die Wahl, andere haben sie bereits gefunden. Die Vision für ein starkes Europa fehlt überall.

 

Fad, aber wichtig

25 Jahre darf und durfte ich im EU-Parlament arbeiten, verhandeln, gestalten. Die vielen nächtlichen Verhandlungsrunden – meist zu meinem legislativen Steckenpferd, der Banken- und Finanzmarktregulierung (Stichwort: fad, aber wichtig), – belohnt niemand. Aber es sind diese Verhandlungen die sinnbildlich für das Wesen unserer Demokratie stehen: Der Kompromiss, die ernsthafte Suche nach der besten Lösung. Das faszinierende dabei ist: Wir sind uns meist von Anfang an einig, was notwendig ist, was jetzt zu tun ist. Dann geht es „nur noch“ um die kleinen Details. Diese Grundlage fehlt uns in Österreich.

Der ehemalige Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker, für seine pointierte Zunge bekannt, sagte einmal den richtigen Satz: „Jeder weiß, welche Reformen wir brauchen, aber niemand weiß, wie wir sie einführen und danach eine Wahl gewinnen können.“

Vielleicht wäre es aber gerade jetzt und gerade in einem Wahljahr wieder an der Zeit, das Notwendige einfach umzusetzen – anstatt uns vor der nächsten Umfrage zu fürchten. Lösungen und Inhalte sind schließlich das, was die politische Mitte von den Rändern unterscheidet – und die einzige Chance, die Extreme nachhaltig zu limitieren.